Vom Unteren Hof und der Schulstraße

Text | Dorfgeschichten, Personen | Samstag, 01 Juli 1950

Vom Unteren Hof und der Schulstraße

Helmut Schippmann

Mit meinen Eltern wohnten wir im gleichen Haus wie der Bauer Löttgen, genannt Piefemann. Der hatte ein Pferd namens Max, das ich heiß und innig liebte. Sooft ich konnte, hielt ich mich in seiner Nähe auf. Sein langer Schweif hatte es mir besonders angetan, und so hing ich mich eines Tages völlig arglos an diesem fest und schaukelte hin und her. Als meine Mutter das sah, geriet sie in Panik. Was hätte passieren können, wenn Max ausgetreten hätte. Doch scheinbar war ich ihm so vertraut, dass er mir das nicht übelnahm.
Meine zweite Erinnerung hängt ebenfalls mit Max zusammen. Soldaten kamen und holten Max für den Kriegsdienst ab. Wie flossen da bei allen die Tränen und Bauer Löttgen sagte: „Und wenn ich bis Russland mitgehen muss, ich lasse das Tier nicht alleine.“ So marschierten die Soldaten mit beiden weg. Wir alle waren tieftraurig. Doch welch eine Freude und Erleichterung, als spät abends im „Unteren Hof“ Pferdegetrappel zu hören war. Kein Pferd ist jemals herzlicher begrüßt worden als Max.

Schon als kleiner Junge musste ich mit aufs Feld gehen, um den Kopf von Max, besonders die Augen, mit einem Blätterzweig vor Fliegen zu schützen, die dem Tier äußerst lästig wurden. Da Max mein Freund war, liebte ich diese Aufgabe sehr.
Großen Spaß machte mir auch immer, ganz oben auf dem Heuwagen mitfahren zu dürfen, dann beim Abladen zu helfen und das Heu mit den nackten Füßen fest zu stampfen.

Dann begann die Schulzeit. Der erste Schultag verlief total anders, als das heute üblich ist. Niemand aus meiner Familie brachte mich zur Schule, nein, der Schreinergeselle Konrad Walter, der gerade vorbeikam, nahm mich an die Hand und ging mit mir bis zur Schule gegenüber seinem Arbeitsplatz, der Schreinerei Klüser.

Wir mussten uns auch die ersten Jahre immer die Schulbücher mit einem anderen Kind teilen. Wie enttäuscht war man, wenn man ein zerfleddertes Rechen- oder Lesebuch bekam, besonders wenn man selbst sehr sorgsam mit Büchern umging.

Morgens gingen wir immer mit mehreren Kindern zur Schule. Welch ein Geschnatter war das! Der Lehrer Hoppe stand vor der Schule und rauchte sein Pfeifchen. Einmal beobachtete er, dass die ganze Horde den gegenüber wohnenden Schreinermeister Klüser, der draußen arbeitete, nicht grüßte. Da wurden wir alle zurückgeschickt, mussten im Chor „Guten Morgen, Herr Klüser!“ sagen und wurden erst dann in die Schule gelassen.

Jeden Tag nahmen wir einen Löffel und ein Töpfchen mit in die Schule, denn dort gab es die Schulspeisung. Frau Hoppe, die Lehrersfrau, kochte einen Riesentopf Suppe, die dann verteilt wurde. Ganz selten gab es, und das war was absolut Besonderes, Brot mit Erdnussbutter aus Care-Paketen. Und noch seltener waren in Folie verpackte Kekspäckchen mit einem winzigen Schokoladetäfelchen, Kaugummi oder ein Tütchen Nescafé, worüber sich mittags natürlich die Mütter mehr freuten als die Kinder.

Nachdem wir die Schularbeiten gemacht hatten, ging es mit den anderen Kindern hinaus in Feld und Wald. Über Stunden konnten wir „Räuber und Gendarm“ spielen oder Häuschen bauen. In den Sommermonaten hielten wir uns nur draußen auf, und auch im Winter waren wir selten drinnen. So gab es eine herrliche Schlittenbahn vom Friedhof oben an der Bodenbergstraße (damals Bergstraße) bis in die Wiese unterhalb der dicken Eiche, ja fast bis an die Waldbröler Straße. Stunde um Stunde bis in die Dunkelheit hinein rodelten wir diese fantastische Bahn entlang. Da es kaum Autoverkehr gab, war das wenig gefährlich, außer durch die Kunststücke, die wir selber dabei anstellten.

Für die evangelischen Kinder war es selbstverständlich, am Sonntag in den Kindergottesdienst zu gehen, der in der Schule von Fräulein Simon abgehalten wurde. Dort gab es jedes Mal das Blättchen „Für Euch“, das daheim aufmerksam gelesen wurde. Einmal im Jahr gingen wir Kindergottesdienstkinder zur alten Frau Major Wesputat in die Villa „Marie und Martha“, um ihr ein Geburtstagsständchen zu bringen. Belohnt wurden wir mit leckeren Keksen.

Ein besonderes Erlebnis war für mich eine Fahrt mit meinem Vater und Cousin mit einem LKW, damals noch ein Holzkocher von der Firma Höffer aus Schladern nach Frechen, um dort Briketts zu holen. Wir bekamen extra schulfrei dafür und fühlten uns, als ob wir eine Weltreise unternehmen würden. Vor der dortigen Fabrik standen lange Schlangen von Lkw‘s, die beladen werden mussten. Das nahm eine lange Zeit in Anspruch. Wir Jungen, mein Vetter neun, ich sieben Jahre alt, vertrieben uns diese, indem wir in dem Kohlenstaub herrliche Burgen und ganze Landschaften bauten. Dementsprechend sahen wir aus. Auf der Rückfahrt geschah es: nahe Siegburg platzte ein Reifen. Mein Vater musste nun zu Fuß mit dem Reifen nach Siegburg gehen, um ihn dort reparieren zu lassen. Wir Jungen blieben allein bei dem Lkw zurück. Die erste Zeit fanden wir das noch interessant. Die Autobahn gehörte uns. Wir spielten Nachlaufen, denn in jenen Jahren war die Autobahn (die heutige A3) noch fast leer. Doch nach einigen Stunden wurde uns immer banger ums Herz, und als dann mein Vetter noch sagte: „Der kommt nicht wieder, der hat uns vergessen“, da war es um unsere Verfassung geschehen. Wir heulten vor Angst und Verzweiflung, und unsere Tränen mussten sich durch den dicken Kohlenstaub in unseren Gesichtern Bahn brechen. Wie war der Jubel groß, als wir plötzlich, es wurde schon langsam dunkel, aus der Ferne meinen Vater mit einem Reifen vor sich her schibbelnd auf uns zukommen sahen. Zu Hause angekommen, machte meine Mutter nur einen Schrei, als sie diese verschmierten, völlig verdreckten Jungen in Empfang nahm. Doch wir hatten ein richtiges Abenteuer erlebt!

 

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Bodenbergstraße 3
Windeck, Nordrhein-Westfalen.
Deutschland ,51570

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