Fröhliche, frühe Jahre

Text | Personen, Schulen | Sonntag, 21 April 1946

Fröhliche, frühe Jahre

Inge Holtmann, geb. Döring

Die beiden Schulgebäude, katholische und evangelische Volksschule, standen nebeneinander, nur durch ein Gartengelände getrennt. Sie sahen gleich aus, waren gleich eingerichtet: Der Eingangsflur mit Kleiderhaken, ein großer Klassenraum und oben drüber die Wohnung des Lehrers. Durch diese getrennte Schulerziehung hatten Katholiken und Protestanten auch später wenige Verbindungen miteinander. Ostern 1946 wurde ich eingeschult in der katholischen Schule. Es gab keine Lehrer mehr, und so musste sich der alte Lehrer Schier mit einer Horde ziemlich verwilderter Kinder abmühen, zwischen sechs und vierzehn Jahren, katholisch und evangelisch. Das gelang nur mit größter Strenge. Nach kurzer Zeit zogen wir evangelischen Schüler mit einem Aushilfslehrer in unser Gebäude, wir wurden beaufsichtigt.

Ab 1948 kam Ordnung in die Schulverhältnisse. Lehrer Hoppe, der mit seiner Familie aus Pommern geflohen war, wurde unser Lehrer, Klasse 1 bis 8 in dem einen Klassenraum. Mittendrin stand ein dicker Ofen, drumherum die Schulbänke mit Klappsitzen und vorne das erhöhte Lehrerpult und eine Tafel. Morgens brachte jeder ein Brikett mit. In der Pause bekamen wir ein Süppchen und Salzkekse, die von amerikanischen Baptisten gespendete „Schulspeisung“. Dafür musste natürlich jeder eine kleine Schüssel und einen Löffel mitbringen. Zum Ärger unserer Eltern gingen die immer wieder verloren.

Der Unterricht von Lehrer Hoppe machte uns glücklich. Er war streng, verlangte Disziplin und Fleiß und gutes Benehmen. Es war immer interessant. Wenn wir Kleineren unsere Schreib- oder Rechenarbeiten erledigt hatten, konnten wir bei den Großen zuhören: vorgetragene Geschichten, Erdkunde oder Pflanzenkunde. Es wurde auch oft gesungen, Lehrer Hoppe spielte Geige, und wir mussten viele Gedichte lernen, besonders für die Weihnachtsfeier. Dann durften wir uns und das Gelernte vor den Eltern präsentieren.

Am Nachmittag durften wir auf dem Schulhof spielen. Einmal brachte jemand Reststückchen von der weißen Tafelkreide mit. Begeistert bemalten wir die roten Ziegelsteine des Schulgebäudes. Am nächsten Morgen ließ uns Lehrer Hoppe antreten und beichten. Jeder bekam mehrere Hiebe auf die rechte Hand. Man bemalte keine Wände und man klaute schon gar keine Kreide. Die war richtig wertvoll.

Highlights für alle waren die Wanderungen und Ausflüge in die Wälder rund ums Dorf: Über den Bodenberg nach Höhnrath, bis zu den drei Eichen, nach Windeck, Schöneck und über den Steiner Berg. Heimatkunde wurde erwandert. In den ersten Jahren nach Kriegsende wiederholten sich die Wanderungen oft: Wir sammeln Bucheckern für die Ölpressung und Brombeerblätter und Brennnesseln für Tee. Die wurden auf dem Schulspeicher zum Trocknen ausgebreitet und mussten immer wieder gewendet werden. „Blätterwenden“ war eine Belohnung für gute Mitarbeit.
Der Abschied aus dieser Schulfamilie beim Wechsel zum Gymnasium fiel uns schwer, etwas versüßt durch den Triumph, die mehrtägige Aufnahmeprüfung bestanden zu haben. Das Leben danach wurde beschwerlicher. Früh um sieben Uhr zum Bahnhof rennen, um den Bus zu bekommen, mittags spät zurückkommen, eine Menge neuer Hausaufgaben erledigen müssen und gute Noten heimbringen. Gymnasium war teuer. Schulgeld, Geld für Bücher und Schreibmaterial sowie für die Busfahrkarte zu bezahlen war für viele Eltern unerschwinglich. Glücklicherweise gab es in dem alten Schulgebäude des Gymnasiums in Waldbröl nicht genügend Klassenräume. So kam es, dass die fünfte und sechste Klasse jede Woche einen Tag frei hatte. Ich wurde die beste „Kundin“ in der noch aus Vorkriegszeit vorhandenen Bücherei in unserer Dorfschule.

„Kläpperchen“, Schuhe und Frostbeulen

Viele „Kriegskinder“ haben im Alter gekrümmte und knubbelige Zehen. Jahrelang trugen sie zu enge, zu kurze, zu schmale, zu weite Schuhe. Im Sommer war das Schuhproblem leichter zu lösen und weniger schmerzhaft. Barfuß oder Kläpperchen. An die Holzsohlen, oft nur Brettchen, wurden aus Autostreifen geschnittene Gummistreifen angenagelt. Fertig. Es klapperte beim Laufen und ewig rissen die Nägel raus und verschwanden. Das Nägelsuchen auf den Straßen und am Bahndamm und später die gesammelten Schätze gerade klopfen, das waren vom Vater gern verordnete „Strafarbeiten“. Unsere Finger haben sehr gelitten.

Jedes Kind besaß ein einziges Paar Schuhe. Wenn die zu klein wurden, mussten sie jedes Jahr aufs Neue die der älteren Geschwister auftragen, egal, ob sie passten oder nicht. Es gab nichts anderes. Im Winter war das hart. Allerdings ertrugen wir die drückenden oder schlappenden Geschwisterschuhe ohne Jammern und vergaßen beim Spielen die Schmerzen. Wenn wir aber am Nachmittag oder Abend nach Hause kamen und die klatschnassen Schuhe und Socken von den eiskalten Füßen zogen, wurden sie spürbar, besonders an den Zehen. Überall bildeten sich Frostbeulen, rote, dicke schmerzhafte Knubbel. Zu gerne steckten wir dann die Eisfüße in den geöffneten Backofen, was Mutter manchmal erlaubte. Aber das blieb nicht ohne Folgen. Die Frostbeulen fingen an entsetzlich zu jucken und zu kribbeln. Wenn wir dann im eiskalten Bett in den ungeheizten Schlafzimmern warm geworden waren, ging die Juckerei weiter. Trotzdem wollten wir nicht auf den am Ofen angewärmten Ziegelstein verzichten, der von oben nach unten geschoben wurde, um jede Stelle zu erreichen. Allerdings verursachten die scharfen Kanten trotz umgewickelten Handtuchs manche Wunde.

Schlittschuhlaufen

Wenn es einige Tage so kalt gewesen war, dass sich die Frostbeulen an den Zehen wieder bemerkbar machten, dann wussten wir, bald ist „Höffers Teich“ zugefroren. Dieser grüne Kreis unterhalb vom Bergischen Hof war tatsächlich ein kleiner See. Und weil zu unserer Zeit das ganze Gelände mit dem Hotel und dem schönen Wohnhaus der Familie Höffer gehörte, war das eben „Höffers Teich“. Also mussten wir im Keller nach den mittlerweile verrosteten Kufen suchen. Das waren wirklich nur stumpfe Kufen mit zwei Klemmen obendrauf, in die wir die Schuhe steckten und mit, wenn wir hatten, Lederriemen oder Paketschnüren festbanden. Die rissen natürlich immer wieder, so dass wir unbedingt Ersatzkordel in der Tasche haben mussten. Die mussten wir aber erst mal im Haus suchen und klauen, denn Kordel war rar und begehrt. Dann mussten wir die Kufen entrosten, die Klemmen bewegten sich sowieso nicht mehr, wie das mal im Neuzustand gewesen war. Auch für das Entrosten brauchten wir „Material“, Sandpapier, noch wertvoller als Kordel und darum nur besonders heimlich im Werkzeugschrank zu „finden“. Diese Vorarbeiten an den Schlittschuhen mussten auch möglichst heimlich ausgeführt werden, denn die Mütter waren nicht begeistert von unserem Vorhaben. Aber die Nahrungs-, Kleidungs- und Wohnfürsorge für die Familie lenkten sie meist von den Unternehmungen der Kinder ab. Sie konnten sich nicht um alles kümmern.

So trafen wir uns mittags am Teich. Die Kufen unter die Schuhe binden – mühsam - die ersten rutschigen Schritte - aufregend - dem an den Ufern hochschwappenden Wasser ausweichen - nicht ungefährlich. Aber dann, es ging wieder, es rutschte, und schließlich glitten die Kufen kratzend auf die Eisfläche raus. Mit jeder Runde, immer in der Mitte, wo das Eis hart, dunkel und glatt war, wurde das Gleiten leichter und genüsslicher. Nur die Jungen ärgerten uns. Sie spielten mit Stöcken und leeren Konservendosen Eishockey und rasten am liebsten quer durch unsere Bahnen, wo wir Mädchen unentwegt Kreise und Achter übten. Die unvermeidlichen Stürze und das Gelächter sowie das bedenkliche Knacken der Eisfläche ertrugen wir möglichst lässig. Das gehörte zu unserem Vergnügen. Für die nassen Hosen und Schuhe zu Hause eine Erklärung zu finden, das war dann weniger vergnüglich.

Im Sommer

Im Sommer lebten wir Kinder draußen: Im Dorf, im Wald, auf dem Fußballplatz, an und in der Sieg und auf unserer „Rennbahn“. Die „Chaussee“ nach Dattenfeld war die einzige asphaltierte Straße, und zwischen der Einmündung der Burg Windeck Straße und Fredebeils Hof (heute Haus Schladern) leicht abschüssig und gerade. Wenn mal eins der seltenen Autos zu sehen war, konnten wir früh genug ausweichen.
Zuerst übten wir Rollschuhfahren. Auch die banden wir uns mit Kordel oder Riemen an die Schuhe. Das Tauschen der Rollschuhe unter Geschwistern oder Freunden wurde mit einigen Zankereien und Tricks hinausgezögert, war aber eigentlich selbstverständlich. Ebenso die „Lernhilfe“ durch Ziehen oder Bremsverstärkung. Begleitet wurde unsere rollende Stolperei von fachmännischen Diskussionen über „Kugellager“: je mehr, desto höher die Qualität der Rollschuhe, wobei keiner genau wusste, was damit eigentlich gemeint war. Die ersten Exemplare nach dem Krieg waren schlicht, aber stabil. Ebenso die Fahrräder.

Für die evangelischen Kinder war es selbstverständlich, konfirmiert zu werden, wie die Kommunion für die Katholiken. Nur mussten wir zwei Jahre lang den wöchentlichen Unterricht bei unserem Pastor in Rosbach besuchen. Also musste ein Fahrrad angeschafft werden, wenn die Älteste in der Geschwisterreihe zwölf Jahre alt wurde. Diese klobigen schweren Nachkriegsräder wurden von uns geliebt und gehütet, aber dauernd gab es einen Platten. Selber reparieren war nicht leicht, zumal wir zunächst überhaupt kein Flickzeug besaßen, und die Auto- und Fahrradreparaturwerkstatt von Gustav Jasser weigerte sich, alle Platten der Schladener Jugend zu reparieren. Mit Recht: Oft stand ein dicker Stapel Fahrräder in der Werkstatt, wenn wir demütig angeschoben kamen und um Hilfe baten. Auf der Dattenfelder Chaussee lernte jeder hüpfend und hinkend einen Fuß auf einem Pedal und den anderen auf der Straße, Fahrradfahren.

Sommer, das bedeutete Freiheit im Dorf, rundherum und an der Sieg. Besonders an der Sieg. Mit Schilfbündeln unter dem Bauch brachten wir uns das Schwimmen bei. Wer dann einmal quer durch den Fluss zum anderen Ufer schwimmen konnte, gehörte dazu. Wer das nicht schaffte, wurde unbarmherzig gehänselt. Wir waren nicht unbedingt „liebe“ Kinder. Als endgültige Mutprobe galt der Sprung von der Brücke. Nur von einem bestimmten Pfeiler trauten wir uns, dort war das Wasser tief genug. Allerdings verlangte das Raufklettern auf den Pfeiler, das Runterspringen und wieder Raufklettern wirklich Mut und Geschicklichkeit. Meist kletterten wir auf der Brücke über das Geländer und sprangen auf den Pfeiler. Die Ufer der Sieg waren sehr verschlammt, und dicke Schilfwände ließen kein Rauskommen zu. Nur an unserer Badestelle konnten wir über den kiesigen Uferstreifen ins Wasser und wieder raus. Dort lagen natürlich all unsere Sachen, und der größte Spaß für die Jungen war das Verstecken unserer Klamotten. So ergab sich manche wüste Rauferei.
In heißen, trockenen Sommerperioden, wenn wir zu Fuß durch den Fluss durchlaufen konnten, lockte das Abenteuer Wasserfall. Felsen und kleine und größere Tümpel boten uns viele Möglichkeiten. Hier hieß die Mutprobe: Auf der abgerundeten Sperrmauer quer rüber balancieren. Meine dauerhafte Erinnerung an diese Klettereien ist ein gebrochener Zeh. Das haben meine Eltern nie erfahren.

Ski- und Schlittenfahrten

Mühsam begann dieser Spaß, denn zunächst mussten wir unsere vom Schreiner Klüser angefertigten Bretter auf der Schulter durch das Dorf tragen, durch den unteren Hof, durch die Hähn über den ausgefahrenen Kuhweg hoch bis zum oberen Ende des Sonnenhangs. Alle Versuche, die mit Kerzenwachs geglätteten Bretter schon vor dem Haus anzubinden und per „Langlauf“ durchs Dorf zu gleiten, scheiterten an den kratzenden Steinen. Die Straßen waren ja nicht asphaltiert, im Frühling nannten wir den Sonnenhang „Veilchenwiese“ und im Juni „Margaritenwiese“, dann war sie nicht mehr blau, sondern weiß.

Ein besseres Gelände für unsere Versuche Ski-Asse zu werden, konnten wir uns nicht wünschen. Diese lange, leicht abfallende Kuhweide ohne Zäune war ideal. Also Skier und Stöcke rauftragen, mit Lederriemen oder Kordel an den Schuhen festbinden, von der Klemme vorne einen Riemen quer über die Schuhe und einen Riemen hinten um die Ferse, und losrutschen. Die ersten Abfahrten waren holprige Rutscherei. Zunächst mussten wir die Maulwurfshügel einebnen und uns durch häufiges Runterfahren auf der gleichen Bahn eine glatte Piste erarbeiten. Der Mutigste war unser kleiner Bruder, fünf oder sechs Jahre alt. Wie ein Ball sauste und flog er sogar über die kleinen Sprungschanzen, die wir uns mit festgeklopftem Schnee in die Bahn bauten.

Wenn wir sehr unternehmungslustig waren und das Wetter gut, kletterten wir den steilen Berg über dem Sonnenhang hinauf, um die „Zeppelinwiese“ zu erreichen. Dort war unsere Piste kürzer, aber viel steiler. Auch der Rückweg am Abend erforderte Können und Mut. Der lief über den Bodenberg, durch den Wald und über ausgefahrene Wege, bis wir am Fußballplatz ankamen, oder auch nicht. Meine Freundin Annemarie Höffer und ich hatten an einem Abend echt viel Pech mit gerissenen Riemen und Stürzen in den Kurven, so dass es spät und dunkel war, als wir am Fußballplatz von dem älteren Bruder der Freundin wütend und schimpfend in Empfang genommen wurden. Die Familie hatte voller Sorge die Brüder als Suchmannschaft ausgeschickt. In den nächsten Tagen verrichteten wir freiwillig häusliche Arbeiten. Einen Unfall hat es nie gegeben.
Auch beim Schlittenfahren hatten wir meist einen Schutzengel. Unsere Bahn begann am oberen Ende der Bodenbergstraße vom „Zum Sprietchen“ aus, lief die lange Straße runter, durch den unteren Hof, und wenn der Schnee hoch genug lag, neben der dicken Eiche die steile Wiese runter bis in die Wiesen an der Waldbröler Straße hinein. Fantastisch!

Der lange Weg zurück und das Raufziehen der Schlitten waren es weniger. Wenn wir dann noch drei Holzschlitten aneinanderbinden konnten und diese „Schlickerpost“ mit sechs Leuten besetzen, erlebten wir eine supertolle, rasende Fahrt, begleitet von lautem Geschrei „Bahn frei!“. Natürlich rammte der Zug schon mal einen Gartenzaun, natürlich kippte alles schon mal um und natürlich schimpften manche Anwohner und streuten Asche auf unsere Bahn. Dann mussten wir warten, bis es wieder schneite.

Die Plätze auf der Schlickerpost waren heiß begehrt, besonders von denen, die kein Anrecht darauf hatten, weil sie ohne Schlitten gekommen waren. So bat mich eines Tages, als wir nach einer rasanten Fahrt wieder oben angekommen waren, eine Klassenkameradin, ihr nur einmal meinen Platz zu überlassen. Ich erinnere mich mit schlechtem Gewissen, dass ich mich schwergetan habe. Man stand halt lange oben am Start und wartete und langweilte sich, es sei denn, es gab Mitspieler für eine Schneeballschlacht. Gab‘s aber nicht. Die Zeit wurde mir sehr lang und die Füße sehr kalt. Schließlich lief ich die Bodenbergstraße runter und traf bald auf einen aufgeregten Menschenauflauf, unsere Schlickerpost mittendrin. Große Empörung bei den Erwachsenen. „Wir haben euch immer gesagt, das geht nicht!“ Der Schlickerpostlenker hatte Probleme gehabt, der Zug war gegen einen Zaun gefahren, und meine Schulkameradin hatte sich ein Bein gebrochen, ausgerechnet sie.

 

Falkenweg 14
Windeck, Nordrhein-Westfalen.
Deutschland ,51570

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