Meine Schule im Wandel

Text | Personen, Schulen | Dienstag, 01 Januar 1946

Meine Schule im Wandel

von Anne Matern, geb. Döring (*1936)

Nach meiner Einschulung in Bad Salzbrunn/ Schlesien im Herbst 1943, d.h. kurz bevor ich sieben Jahre alt wurde, erlebte ich ein geregeltes, ruhiges erstes Schuljahr, da Schlesien von den Fliegerangriffen im Westen verschont blieb. Nach den Sommerferien 1944 wurde der Unterricht stark verdünnt, teils weil viele Lehrer eingezogen waren, und Lehrerinnen abgezogen wurden um leere Stellen in „wehrerhaltenden“ Betrieben zu füllen. Uns wurden Unterrichtszeiten nur von Tag zu Tag bekannt gegeben, für mich anfänglich einige Male ein Schamerlebnis, weil ich nur die Zeitbenennung „viertel“ nach und „viertel vor“ kannte, aber nicht z.B. „Viertel zehn“ = viertel nach 9 Uhr. Nach der Jahreswende 1944/45 fiel der Unterricht überwiegend aus, und ich durfte öfter mit meiner jüngeren Schwester in den Kindergarten gehen, weil meine Mutter durch die Geburt unseres Jüngsten und durch alle Sorgen vor den heranrückenden Russen sehr belastet war, und mein Vater trotz seiner Behinderung mit verlorenem Auge und Arm zum „Volkssturm“ eingezogen wurde.

Unsere „Ella“, die Hausgehilfin aus Jauer (heute Javor), betreute uns liebevoll, war aber selbst erst knapp 18 Jahre alt. Ende Januar traf unsere „Tante Leni“, die ältere Schwester meiner Mutter ein, um uns drei ältere Kinder zu den Großeltern in Schladern zu bringen. Die abenteuerliche Flucht begann am 11. Februar auf einem Militärlastwagen und endete elf Tage später bei dem glücklichen Großvater, den Tanten Käthe und Minchen. Das umsorgte Kinderdasein ließ uns die „Mutti“ nicht zu sehr vermissen. Aber zum Schlafen gingen wir bis fast zur Kapitulation abends in „den Oberen Hof“ zu Schneiders aufs Matratzenlager, um möglichen Tieffliegern zu entgehen, die wir abends öfter mit Schauern brummen hörten. Tags darauf sahen wir dann, z.B. neben dem Ronneburg-Haus in der damaligen Schulstraße (heute Falkenweg), die Trümmer des Hauses Sander, das von einer Fliegerbombe getroffen worden war.


Da ich allmählich ja überlange „Ferien“ gehabt hatte, fühlten sich unsere pädagogisch denkenden Tanten für meinen Schulbesuch verantwortlich und organsierten nach dem Einmarsch der „Amis“ mit bekannten Eltern einen Ersatzunterricht in „Höffers Saal“, der zu der Zeit ja keine andere Verwendung fand. Wer uns unterrichtete ist mir entfallen, aber ich ging mit Vergnügen morgens mit einem Dutzend Schladerner Kinder verschiedener Klassen in „die Schule“, diesen, für mich riesigen, halbdunklen Raum, voller gestapelter Tische und Stühle, in dem eine Ecke für uns, so gut es ging, eingerichtet war. Eine Tafel gab es, Bücher und Schulmaterial in spärlichster Form, möglicherweise mit Beständen aus der evangelischen und katholischen Volksschule. Der Unterricht war schon deshalb lebendig, weil alle Jahrgänge eingebunden wurden, es Stillarbeit gab, aber auch „gegenseitiges Lernen“, viel lockerer als in der überfüllten, streng autoritär gehaltenen Klasse in Schlesien, und wir durften auf Papier schreiben - dem wichtigsten Symbol, kein „I-Dötzchen“ zu sein. Wer Papier und Stifte organisierte, weiß ich nicht mehr, es wurde alles zusammengekratzt, was auffindbar war. Wir hatten immer Hausaufgaben zu erledigen, sollten Lesen und das Einmaleins üben. Unsere Tanten halfen mir gerne, später meine Mutter.


Meine Mutter war erst Mitte Juli endgültig wieder bei uns, von Sommerferien wurde nicht gesprochen, aber im Herbst 1945 begann irgendwann regulärer Unterricht bei dem ukrainischen Lehrer Ross in der evangelischen Volksschule. Das Klassenzimmer für die acht Jahrgangsstufen war voll erhalten. Wir wurden natürlich wieder nacheinander unterrichtet, hatten viel Gelegenheit bei den „Großen“ zuzuhören, durften und sollten uns gegenseitig bei Stillarbeit helfen. Nach meiner Erinnerung waren wir insgesamt zwischen 25 und 30 Schüler. Margret Schuhen, Käthe Jasser und Marlies Haas, alle ein- bis eineinhalb Jahre älter als ich, wurden meine großen Vorbilder. Meine beste Freundin war Lotti Müller in meinem Jahrgang. Aber auch Betti Pickruhn aus Ostpreußen, die neben uns mit ihrer großen Familie einquartiert war, gehörte dazu. Dass es ein paar Buben meines Jahrgangs gab, wurde mir erst bewusst, als wir später gemeinsam im Bus zum Gymnasium fuhren. An Hausaufgaben kann ich mich in dieser Zeit kaum erinnern, sie waren im Nu gemacht und konnten auch darin bestehen, „ein Gedicht“ zu schreiben oder ein Bild zu malen. Am liebsten war mir aber der wöchentliche Handarbeitsunterricht bei „Tante Helene“ Moritz, wo wir an „Sticktüchern“ alle möglichen Sticharten, Hohlsaum und Verzierungen lernten, natürlich auch Stricken und Häkeln. Handarbeiten und Lesen wurden meine liebsten Beschäftigungen.

Einen Umbruch gab es 1946, als Lehrer Schier für uns alle an die katholische Volksschule beordert wurde. Er war schon älter und sehr streng, Stockschläge auf die Finger einbegriffen. Außerdem mussten wir wieder auf Schiefertafeln schreiben, ein gefühltes „Drama“, denn davon wurde man eigentlich mit dem Ende der zweiten Klasse befreit. Wie viel Schmiererei, Tintenflecken und Ärger mit den Federn und Federhaltern uns Griffel und Wischlappen eigentlich ersparten, konnten und wollten wir nicht wahrnehmen in unserer Sehnsucht, „groß“ zu sein.

Für meine Mutter und die Tanten, mein Vater war ja noch in Schlesien, war es selbstverständlich, dass ich zum Gymnasium gehen sollte, deshalb meldeten sie mich zur Aufnahmeprüfung am Hollenberg-Gymnasium in Waldbröl an, die im März 1947 an zwei Tagen für den Schuljahrsbeginn nach Ostern stattfand. Die Fahrt dorthin wurde von den Eltern der anzumeldenden Schüler organisiert, den Familien Höffer, Schröder, Neubert, auf einem offenen Lastwagen mit Holzvergaser bei sehr winterlichem Wetter. In der nur schlecht beheizten Aula und Klassenzimmern des Hollenberg-Gymnasiums wurden 276 Schülern geprüft, von denen hundert angenommen werden sollten. Da war es wohl natürlich, dass ich als „noch sehr jung“ auf das folgende Jahr vertröstet wurde. Im Laufe des Sommers erfuhren meine Mutter und Tanten, dass man in Wissen, in der französischen Zone, auch zum Gymnasium gehen konnte, sogar ohne Schulgeld, das in der englischen Zone erhoben wurde. Das Schuljahr begann im Herbst, an eine Aufnahmeprüfung kann ich mich nicht erinnern. Die Fahrt mit dem Zug in den alten schmalen Einzelabteilen auf Holzbänken war fast noch kürzer als mit dem Bus nach Waldbröl. Es fuhr zwar kein anderes Kind aus Schladern mit mir, aber in der neuen Sexta lebte ich mich schnell ein. Eine besondere Chance war die Schulspeisung für schlecht ernährte Kinder. Dazu gehörte ich mit immer frischer Hautfarbe nicht, aber wir alle durften immer einen Becher am Riemen des Schulranzens mitführen und uns abwechselnd anstellen, wenn berechtigte Kinder krank waren. Ab und zu eine Erbsmehlsuppe zu ergattern war wie ein Lottogewinn.


Im Herbst 1947 war dann endlich mein Vater wieder bei uns, und meine Eltern erfuhren, dass das Schulgeld in der englischen Zone gestrichen war. Sie hielten das Hollenberg-Gymnasium, mit Latein als erster Fremdsprache für wichtiger in unserer englischen Zone, und ich durfte auch gleich in die Quinta wechseln, die dort aber schon Ostern begonnen hatte. Das bedeutete eineinhalb Jahre Latein nachzuholen. Dafür fand sich Karlheinz Schönberg, der Sohn einer guten Bekannten, der die Oberprima besuchte und bereit war, dreimal wöchentlich mit mir Latein zu „pauken“. Zuerst fiel mir der Wechsel schwer, weil ich meine beste Freundin verloren hatte und mich in der neuen Klasse, die schon zusammengewachsen war, einsam fühlte. Ich konnte nur langsam Fuß fassen, denn es gab ja auch keine Möglichkeit, sich nachmittags zu treffen. Wir waren fast alle Fahrschüler aus allen umliegenden Dörfern, und die Busse nach Waldbröl fuhren nachmittags zu spärlich. Die Mitschüler im Bus waren alles Buben - also damals eine andere Welt. Meine Freundin Lotti und die älteren Mädchen sah ich kaum noch, weil die Nachmittage mit Aufgaben ausgefüllt waren. Zum Glück war ich eine Leseratte und liebte alle Handarbeiten.


In den folgenden Schuljahren fühlte ich mich wohl, liebte den Schulchor, der Freizeiten organisierte, fuhr im Sommer immer wieder nachmittags ins Waldbröler Freibad. In der Sieg war mir das Baden wegen der Wasserverschmutzung und meiner Hautprobleme nicht empfohlen worden. In der Oberstufe waren wir nur noch sechs Mädchen und damit eine gut befreundete Gruppe, soweit das bei Fahrschülern aus lauter verschiedenen Orten möglich ist. Mit dem Abitur im März 1956 endete ein sehr glücklicher, reicher Lebensabschnitt

 

Die katholische Volksschule Schladern im Jahre 1948. Zur Geschichte der Schladerner Schulen: Festschrift zum 50-jährigen Bestehen der Schladerner Schulen

 

Falkenweg 20
Windeck, Nordrhein-Westfalen.
Deutschland ,51570

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