Lebenserinnerungen 1900 - 1918 von Anton Gauchel aus Dreisel

Text | Dorfgeschichten, Personen | Sonntag, 31 Dezember 1899

 

Anton Gauchel 1960

 

Anton Gauchel 23.06.1900 - 15.05.1964
Vater Peter Gauchel 1858 - 1942, Mutter Katharina geb. Salz 1868 - 1935

Vorwort der Redaktion: Wir haben die alte Schreibweise belassen. Anton Gauchel war lange Jahre Hauptlehrer in Dattenfeld. Er wurde 1900 in Dreisel im Haus in der Steinbachstraße gegenüber der Kapelle geboren. Sein Großneffe Volker Gauchel aus Aachen hat den alten Hof vor als Feriendomizil für die Familie renoviert und zu einem Schmuckstück gemacht. Anton Gauchel hat später auf den Dattenfelder Seite der Dreiseler Brücke, in der Dattenfelder Straße 6, gewohnt.

In einem kleinen Westerwalddörfchen an der oberen Sieg kam ich in einer schwülen Nacht im Heumonat zur Welt. Ich war damals das erste Kind von Zwölfen. Während die junge Base den Haushalt wartete, brachte mein Vater mit dem alten Busch die kärgliche Heuernte ein. Die einzige, die täglich zu dem Kaffee ein frisches Ei bekam, war die Lütz-Hebamme. Alle anderen Eier gingen zum Kaufmann, um dort die nötigen Spezereien einzuhandeln. Als das zweite Kind kam, wurde ich in die Wiege gelegt, aber weil keiner zum Wiegen Zeit hatte, besorgte ich das selbst, sodaß meine Mutter einen Schemel abmachen mußte, damit ich beim Schaukeln nicht herausfiel.
In der Kammer unseres Bauernhauses wohnte der alte Schneider Patt mit seiner Frau, der aber in seinem Handwerk nichts mehr tat, ab und zu einen Collecteur (Anmerk. d. Red.: Sammler) von Haus zu Haus begleitete und für ihn einige Schnäpse und ein paar bare Pfennige abfielen. Als ich gerade meine ersten Gehversuche machte, nahm mich dann die Schneiderfrau auf ihren Arm und trug mich mit auf ihre Kammer. Sie langte mit einem Zuckerlöffel in einen Kegel Butter und gab mir davon zu kosten. Wie erstaunt war ich, als diese Butter ganz süß schmeckte. Es war der erste Pudding, den ich zu kosten bekam.
Fünf Jahre alt, waren wir bereits zu fünf Kindern. Der kleine Peter, der in seiner kränklichen Not immer meinen Namen lallte, starb dann bald. Die Dorfmädchen wanden Kränze für den weißen Sarg und die Burschen tranken Schnaps dazu. Die Mutter hatte nicht nur Kinder und Haushalt zu versorgen, sie mußte auch mit aufs Feld. Sie war eine starke, strenge, aber gütige Frau. Als dann das Eichenlohen im Maimonat kam und der Vater mit zwei Burschen, die gerade aus der Schule entlassen, aber noch keine Arbeit gefunden hatten, weitab im Walde von morgens bis abends schwere Arbeit tat, mußte ich als Fünfjähriger mittags das Essen tragen. Der Weg führte durch Äcker steil an und dann trabte ich den Bergpfad hinauf, guckte auf der Höhe noch einmal um, den Blick auf das Vaterhaus gewandt, empfahl mich dem heiligen Schutzengel und lief dann durch den dunklen Wald. Erst dann faßte ich wieder Mut, wenn ich das alte Buschhäuschen im Altenrödchen*

* Prof. Dr. Joachim Gauchel: Das "Altenrödchen" ("Alerödchen" = Alte kleine Rodung) liegt im Wald oberhalb Dreisel. Da sind wir früher auf dem Weg zur ehemaligen >Schmiede (war in Saal) stets dran vorbeigekommen. Man geht durch Dreisel die Steinbachstr. ganz hoch, an der ehemaligen Schule und der ehemaligen Gaststätte (Fam. Roth) "Zum Zillertal" >vorbei weiter aufwärts. Nach paar hundert m zweigt rechts ein Waldweg ab, überquert den Steinbach, macht eine Linkskurve; an diesem >Weg lag/liegt noch weiter oben ein Waldstück deines Großvaters, also am "Alerödchen".

sah, das auf einer weiten Lichtung verlassen stand. Zur Schule hatte ich es nicht weit. Der Lehrer, der aus einem Eifeldörfchen stammte, hatte viele Jungen und Mädchen, die oft zum Spielen kamen. An Winterabenden kam die Lehrersfrau zu meiner Mutter. Sie brachte einen Korb voll Strümpfe und Socken mit, die dann gestopft wurden. Der alte Gußofen war glühend vom Eichenlohholz und der Vater schnarchte wohlig in seiner Nähe. Der Dorflehrer aber saß währenddessen in der Kneipe und horchte auf Neuigkeiten. Er machte Kauf- und Verkaufsverträge für die kleinen Leute, verdiente sich so ein paar Pfennige, sodaß er zum Leidwesen seiner Familie schon einige Äcker zusammengebracht hatte, auf denen er sein Korn zog. Der Wirt war nicht gut auf ihn zu sprechen, da er den ganzen Abend bei einem 5 Pfennigspfefferminz saß, erst dann ging er nach Hause, wenn der alte Peter anfing zu schnarchen.
Plötzlich aber kam ein junger Lehrer frisch vom Kommiß, wo er als Staatseinjähriger gedient hatte. Er stammte aus Köln-Nippes. Als erster führte er den Karneval ein, alte Karbidfäßchen dienten als Trommeln und dazwischen quietschten einige Flöten zum Fastelovendszug, der einige Fußgruppen zeigte, die die letzten Begebenheiten aus dem Dorf vorführten. In der Schule war er tüchtig und fleißig. Er drohte mit dem Stock, verschenkte aber auch Äpfel an die Fleißigen. Gefürchtet waren bei ihm die Dienstag- und Donnerstagnachmittage, die Aufsatztage. Dann zog er seine Manschetten aus, ließ die Schüler mit einer fünf an den Ofen treten und die mit einer sechs vor der Klasse Aufstellung nehmen. Jungen, die so ziemlich immer mit einer fünf abschnitten, haben dann zu Hause mit Tüchern ihre Hosenböden aufgepolstert. Nur der Schustersohn fiel auf, weil er den Hosenboden ganz mit Leder unterlegt hatte, und zum Gaudi der Klasse ganz tolle Geräusche entstanden.
Der Lehrer wohnte als Junggeselle in der Schule. Gegen Abend hörte man ihn singen und die Geige dazu streichen. Mein Vater mußte immer lachen und sagte dazu: Streichen kann er nicht, singen aber kann er wenigstens laut. Diese Geige mußte ab und zu Alois in dem nächsten Dorf holen, wo des Lehrers etwas ältere Braut wohnte. Alois hat dann eines Tages die Geige unterwegs ausgepackt und sie gestrichen. Einige Saiten waren dabei geplatzt, sodaß er es vorzog, am nächsten Tag nicht in der Schule zu erscheinen.
Als ich neun Jahre alt war, nahm der Vater meinen Bruder und mich mit nach Marienthal. Morgens um sechs Uhr zog die Wallfahrtsprozession singend und betend mit flatternden Kirchenfahnen durch die schönen Westerwalddörfchen. Gegen zehn Uhr hörten wir von weitem das schrille Wallfahrtsglöckchen und bald erschien auf der Höhe ein Pater mit seinem Gefolge, um uns abzuholen. Die heilige Messe wurde draußen gefeiert und Pater Ansgar hielt eine ergreifende Predigt über das Leben der Gottesmutter. Der Vater kniete dann lange mit uns beiden vor dem Gnadenbild, um der lieben Mutter alle Sorgen und Nöte eines kinderreichen Bauernmannes vorzutragen. Dann bat er Pater Ansgar, uns beide zu segnen, besonders mich, der immer schwächlich war und sehr oft mit Fieber im Bett liegen mußte. Pater Ansgar ist auf dem Altarbild neben Franziskus dargestellt, er wurde von den Tal- und Bergbewohnern als Heiliger verehrt und hat alle Menschen, die zu ihm kamen, gesegnet und ihnen geholfen, nicht nur Katholiken, sondern auch Lutherischen und Juden.
Lustig war der Kirmestag. Nicht wegen des Kirmesrummels, sondern weil dann Originale erschienen und wir Kinder unser Gaudium hatten. Da war der Stauter-Hein aus dem Eitorfer Land. Er trug einen langen Frack und steifen Bibi. An den Frackenden baumelten gelbe Zigarrenbänder, die es damals in den Zigarrenkisten gab. Wir Kinder waren hinterher. Am Dorfbach hielt er an, schöpfte mit der flachen Hand Wasser und blies mehrmals hinein, bevor er trank. Dann aber lauschte er auf Stimmen von oben und gab ihnen Antwort. Nach dem Kirmestag kam er zu meinem Vater und bat um Arbeit und Brot. Dieser schickte ihn mit einem guten Frühstück in den Wald, um dort Schanzen zu binden. Als der Vater mittags mit dem Essen nachkam, hatte er auch nun gar nichts getan. Als der Vater ihn deshalb zur Rede stellte, erklärte er, „ach lieber Peter, den ganzen Morgen hat ein Vöglein gesungen, schöner Heinrich, schöner Heinrich, da konnte ich doch nicht arbeiten."
Gegen Herbst, wenn die Scheunen voll Waldstreu und frischem Habbel lagen, erschien das Spielmanns Fritzchen mit dem Kneisel. Es war klein und buckelig. Zu seiner Ziehharmonika sang er: „Fritzchen, was hast für ein Röckchen an. Käal, wie siehs du us." In jedem Haus bekam er seine Pfennige, die er sofort in Schnaps umsetzte. Volltrunken schlief er dann in der Streu, neben sich die Flasche, um ihn herum die Kinder, die ihn hänselten.
Winter und Frühjahr kam der lange Thüringer Karl. Er soll Medizinstudent gewesen sein. Er zog es aber vor, zu Landstreichern. Er trug immer Medizinfläschchen bei sich, die er gegen Brot oder eine Mahlzeit tauschte. In kalten Nächten haben wir ihn zusammengekugelt im Fichtenwald gefunden, wo er übernachtete. Nur bei Unwetter schlief er in Scheunen oder Ställen. Als wir im Frühjahr junge Zicklein bekamen und der lange Karl in dem Stall übernachtete, war eines der Tiere morgens tot. „Ja, Len" sagte er „dein Zickel hat mich immer im Schlaf gestört, ich habe ihm dann etwas eingegeben". Im hohen Alter wurde sein Geist verwirrt. Er lag dann ausgestreckt vor dem Wegekreuz und hielt Zwiesprache mit Jesus.
Unser Nachbar war ein ruhiger und pfiffiger Mann. Mit einer Kiepe zog er über Land und verkaufte Tuchwaren. Nebenbei beschäftigte er sich mit Patenten und praktischen Maschinen. So erfand er eine Maschine, die den Weißkohl zu Sauerkraut schnitt. Im Herbst, wenn die kinderreichen Familien ihre Bütten voll Kappes gehäuft, zog er mit seiner Maschine von Dorf zu Dorf. Als mein Vater montags morgens seine Fäuste im Teig hatte, bat ihn der Nachbar, ihm mit dem Ochsengespann eine Fuhre Kohle zu holen. Da aber das Brot gewirkt werden mußte, wurde ich mit dem Gespann geschickt. Auf dem Heimweg sprang dann der Wilhelm schnell in eine Bäckerei, und reichte mir eine von den zwei Tüten, die ich sofort in Angriff nahm. So etwas Leckeres wie diese Makronen hatte meine Zunge noch nicht gekostet. Während des Schmauses kam er in meine Nähe, reichte mir verblüfft die andere Tüte und nahm mir die Leckereien weg. In meiner Tüte waren nur Wasserbrötchen. Leckereien waren uns im Allgemeinen fast unbekannt. Geld bekamen wir nicht in die Finger. So benutzte ich jede Gelegenheit, mir etwas zu verdienen. Manchmal ging es auch daneben.
An einem trüben Herbsttag hütete ich das Vieh auf dem geizigen Klee. Angrenzend war die Kathrin auf ihrem Kartoffelacker mit der ganzen Familie bei der Erntearbeit. Weil ich nun der einzige war, der die Hände noch frei hatte, bat sie mich, beim Auflesen der kleinen Kartoffeln zu helfen. Ich bekäme dann abends einen guten Lohn, Als die Kartoffelsäcke auf den Wagen gehoben wurden, machte Kathrin keine Anstalten zum Entlohnen und ich trieb traurig und auf einen Ausweg sinnend meine Tiere nach Hause. Der Zufall kam mir zu Hilfe. Mutter schickte mich in den Laden, um Bärenkaffee zu holen. So mußte ich an dem Haus der Kathrin vorbei, und ich stellte mich solange neben den Kartoffelwagen auf ihrem Hof bis sie aus dem Haus kam. „Ach so, wohin willst Du denn „Bärenkaffee“ kaufen"?. Sie gab mir fünf Pfennige mit der Weisung, dafür einen Riegel Schokolade zu kaufen und wiederzukommen. Als ich dann mit der Schokolade da stand, rief sie ihren Enkel, brach den Riegel in zwei Stücke und gab mir das kleinste Bröckchen.
1914 kam ich aus der Schule. Es wurde entschieden, daß ich ein Jahr zu Hause helfen mußte, bis der nächste Bruder soweit war. Im August 1914 brach der Krieg aus. Er löste helle Begeisterung aus für König und Vaterland. Die blühende Jugend wurde Soldat. Alte und junge Gediente wurden an die Front geschickt. In Scharen hielten die Militärtransporte Rast: Kinder und Frauen brachten Butterbrote, Waffeln, Getränke, und Süßigkeiten an die Militärzüge. Auf offenen Waggons standen Geschütze und daneben in Feldgrau die jungen Soldaten mit tuchbedecktem Helm.
Aber bald rückte der Krieg auch in unsere Heimat. Der alte Dechant mußte sehr oft eine Todesnachricht überbringen. Männer waren bis auf wenige Reklamierte fast alle weg. Kinder und Frauen besorgten Saat und Ernte. Allmählich aber kam der Hunger. Die Städter überfluteten das Land und gaben für ein Stück Brot das Letzte her. Die Bauern mußten von allem an eine Sammelstelle abliefern. Es wurde so bitter, daß wir im Frühjahr 1917 nur noch junge Brennesselblätter mit ein paar Kartoffeln auf den Tisch bekamen. Mehr wie einmal hat mich die Mutter in das Leuscheider Land geschickt, um dort den Quarkkäse zu hamstern, damit sie ihr Abgabesoll erfüllte. Sehr oft erschien in diesen Tagen der Mann mit dem Türmchen auf dem Helm, der aus Ostpreußen, wo die Gendarmen für die Rheinländer auf den Bäumen wuchsen, beim alten Link und Piller, weil sie die Schweizer Presse lasen und nicht dicht hielten. An den Bahnhöfen stand die Polizei und nahm den Ärmsten der Armen das bißchen Gehamsterte ab. Im Mai 1918 noch nicht 18 Jahre, wurde auch ich noch Soldat. In Sankt Aurol in Lothringen wurden wir in zwölf Wochen ausgebildet, und dann ging es im Feldrekrutendepot nach Frankreich. In der Ausbildungskompanie wurden alle Einjährigen in einer Korporalschaft zusammengezogen und besonders geschliffen. Unser Ausbilder, ein strammer Sergeant Schnocks aus der Mönchengladbacher Gegend, war in jeder Beziehung das größte Schwein, was uns vor Augen gekommen ist. Wir, die wir noch halbe Kinder waren, mußten schon morgens früh die ausfälligsten, unreinen Redensarten über uns ergehen lassen. Ich war überzeugt davon, daß wir jungen Leute uns bewußt waren, daß wir in allernächster Zeit mit dem Tod Bekanntschaft machten, deshalb sauber lebten und uns moralisch nicht gehen ließen. Militärische Schindereien waren an der Tagesordnung, trieben einzelne Kameraden zur Verzweiflung. Widersinnige Befehle mußten ausgeführt werden.

Und hieran erinnert sich seine Enkelin Gabriele Quester, geb. Schmidt

Der Text ist in den Windecker Heimatblättern Band 1 erschienen. Der Band ist bis auf 7 Exemplare ausverkauft. Die Restexemplare sind nach telefonischer Absprache erhältlich bei der WiWa-Vorsitzenden Sylvia Schmidt: 0151-40341982

Mit Opa Anton im Wald



Anton Gauchel mit Enkelin Gabriele 1957 vor dem Haus Dattenfelder Str. 6



… und 1959

Oft bin ich mit meinem Opa Anton durch seinen oder einfach durch den Wald spazieren gegangen. Einmal musste ich mit meinen Gummistiefelchen an einem Baumstamm, der frisch gefällt war, entlang gehen, einen Fuß vor den anderen setzen. Opa hat dann die Schritte gezählt und mir erklärt, dass, wenn er meine Stiefel ausmisst, er so die Länge des Baumstamms messen kann.

Einmal sind wir durch einen Forst mit ganz hohen Fichten gegangen, es ging einen Berg hoch. Am Fuß des Hügels war da eine eingefasste, gemauerte Quelle. Opa Anton räumte einige lose Steine weg, und darunter war das Wasser der Quelle. Opa schöpfte Wasser und gab es mir zu trinken. Es schmeckte kühl nach Wald. Dann legte er sorgfältig wieder die Steine zurück und wir gingen weiter.

Am Ende der Ferien stellte Opa der kleinen Gabriele ein sehr originelles Zeugnis aus




ENDE

Anmerkung der Redaktion: Weil wir enge Kontakte mit dem Heimatverein Eitorf pflegen, fragten wir dort zwecks Austausch von interessanten Information über Gemeindegrenze hinweg bei Mirja Renout nach, ob ihr der in Gauchels Text erwähnte Stauten-Hein bekannt wäre.

Sie schickte zur Veröffentlichung auf unserer Plattform diesen Auszug. Der Eitorfer Journalist Martin Selt hatte ihm ein „Denkmal“ gesetzt in der Broschüre „Eitorfer Originale“ von1941.

Wir danken dem Heimatverein Eitorf.

Sollte jemand ein Foto vom Stauten-Hein in seinem Album haben, wir würden uns freuen.







Dattenfelder Straße 6
Windeck, Nordrhein-Westfalen.
Deutschland ,51570