Kindheit in Schladern in Kriegs- und Nachkriegszeiten

Text | Dorfgeschichten, Weltkriege | Montag, 01 Januar 1945

Therese Orthmann - Kindheit in Schladern in Kriegs- und Nachkriegszeiten

1938 geboren, wuchs ich auf in einer Zeit, in der der Führer Adolf Hitler sein „Tausendjähriges Reich“ plante, die Juden abtransportieren und ermorden ließ, Angst und Schrecken in der Bevölkerung herrschte und jeder Sorge hatte, er
könne etwas Falsches nach draußen tragen.

Keiner traute dem Anderen mehr. Mein Vater hatte seine Meinung über Hitler schon deutlich gemacht, indem er dessen Bild auf dem Bahnhofsvorplatz ausgelegt und Pferdemist darum verteilt hatte. Man hatte ihn schon länger beobachtet und verdächtigte ihn. Bei der Firma Elmores erkundigte man sich nach ihm und wollte ihn abholen. Der Portier schickte die Gestapoleute fort: „Er ist nicht im Hause!“ In der Folge wurde die Mutter bald zur Arbeit verpflichtet. Ich war derweil bei Bekannten untergebracht. Ich sehe sie noch im blauen Overall an der Kreissäge bei Langens. Bevor sie aus dem Haus ging, machte sie nicht nur Brote für mich, sondern packte auch ein paar Schnitten in zerknuddeltes Zeitungspapier. „Warum machst du das?“ fragte ich. „Psst! Die armen Russenjungen aus dem Lager am Stein haben so schrecklichen Hunger. Ich werfe das Eingepackte in die Sägespäne und sie suchen sich die Brote dann daraus hervor. Das darfst du aber niemandem sagen!“


Eine Abordnung von Frauen kam ins Haus: „Frau Holschbach, Sie wollen doch sicher auch der Partei-Frauenschaft beitreten!“ Sie redeten auf sie ein, dann auf den Papa. „Sag doch auch mal was dazu!“ Der meinte schließlich zu seiner Frau gewandt: „Hier bei dem Kind hast du doch Frauenschaft genug in der Familie!“


Eingeschult wurde ich am 1. August 1944. Lehrer Walter war mein erster Lehrer. Die Schulbücher, die wir bekamen, waren vergilbt und zerfleddert. Der Lehrer verpflichtete uns zum Hitlergruß. Der Schulbetrieb war unregelmäßig, und öfters landeten Lehrer und Schüler wegen Fliegeralarm im Keller, wo wir zwischen Kraut- und Bohnenfässern oder Heizmaterial hockten. War der Alarm vorbei, die Flieger über uns weggezogen, gingen wir aufgeregt nach oben. Unsere Mütter holten uns dann verängstigt ab. Als wir nach Hause kamen, standen die Möbel quer, die Schranktüren waren durch den Luftdruck aufgegangen und Gläser und Geschirr lagen zerbrochen am Boden. Dazwischen schwammen Gurken, Kraut und Bohnen. Aus Platznot hatten alle die Vorratsfässer in der Wohnung. Bei uns standen sie im Schlafzimmer. Als der Krieg aus war, kamen die Amerikaner. Sie zogen in unsere Wohnung, und wir hausten im Keller. Kurz vorher waren alle Brücken an der Sieg noch gesprengt worden. Das war, als die Deutschen noch dachten, die Alliierten aufhalten zu können.
Doch Hitler hatte sich überschätzt, sein „Tausendjähriges Reich“ war nur von kurzer Dauer. Wenige Lehrer waren da, die meisten noch im Krieg oder in Gefangenschaft. Aber immerhin gab‘s wieder Unterricht, wenn auch unregelmäßig. Wir brauchten nicht mehr in den Keller oder in den Elmores-Bunker. Eine Bombe hatte das Haus Sand getroffen, eine andere das Haus Krause. Herr Krause war dabei umgekommen, und entsprechend verwüstet sah die Nachbarschaft aus. Dann kamen die Vertriebenen aus dem Osten. Leiter- und Kinderwagen hochbepackt mit Kindern, Omas und Opas, Sack und Pack. Ein schlimmer Anblick von ausgemergelten, zerlumpten Menschen, verängstigt und traumatisiert. Sie wurden dann auch noch irgendwie untergebracht. Wir Kinder freundeten uns schnell an, gingen gemeinsam zur Schule und spielten miteinander. Da die Wohnungsnot so groß war, bekamen meine Eltern und ich erst für drei Monate ein Zimmer im Bahnhof. Später zogen wir in eine kleine Zweizimmerwohnung, die wir uns in Altwindeck bescheiden einrichteten. Dort musste ich dann auch zur Schule gehen. Das machte mich zunächst sehr traurig.


Langsam füllten sich die Regale in den Läden, und auch die Maisbrotzeit hatte ein Ende. Ebenso die Schulspeisung, die ich nicht in guter Erinnerung habe.
Wie staunte ich, als bei Kannegießers orangefarbene schöne Früchte auslagen. „Was ist das, Mama?“ Mutter lächelte, und als wir einkauften, bekam ich eine Orange. Unvergesslich, wie die mir schmeckte.
Jetzt kam die Zeit der Lebensmittelkarten. Jede Familie bekam entsprechend der Mitgliederzahl „Nährmittel“, also Kartoffeln, Mehl, Fett, Brot usw. zugeteilt, bis sich nach der Währungsreform die Normalität wieder einstellte. 1948 mit der
neuen Deutschen Mark wurde alles von Tag zu Tag besser. Die Wirtschaft lief an, viele Soldaten kamen aus der Gefangenschaft zurück. Tausende „Heimkehrer“, die Kanzler Konrad Adenauer in Russland freikaufte. Aber die Mehrzahl der Familien hatte Angehörige verloren, und die Zurückgekommenen waren häufig verstümmelt und seelisch und/oder körperlich schwer traumatisiert worden.

Falkenweg 9
Windeck, Nordrhein-Westfalen.
Deutschland ,51570

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