Die Wanderjahre des Carl Hundhausen - Teil 2

Text | Dorfgeschichten, Weltkriege, Personen | Freitag, 01 Januar 2021

Die Wanderjahre des Carl Hundhausen

Teil 2 (Argentinien)

Von Sylvia Schmidt

Die kalte Juniluft brennt auf der Haut und rötet die Nasen. Es ist Winter 1948, aber Karl und Lucie Hundhausen mit ihren Töchtern Doris (11) und Renate (7), achten nicht auf die Kälte, die Strapazen der letzten Wochen und Jahre sind für einen Moment vergessen. Eingeklemmt zwischen vielen Einwanderern, die ebenfalls ihr Glück in der Ferne suchen, drängen sie sich an die Reling der „Andrea C.“ und atmen tief den unbekannt würzigen Duft des Rio de la Plata ein. Vor ihnen liegt das „Paris des Südens“ – Buenos Aires in Argentinien - und hinter ihnen drei Wochen Seefahrt. Die Hände schützen, zum Schirm über ihre Augen gespannt, gegen das ungewohnt gleißende Sonnenlicht eines strahlend blauen Himmels. Lucie drückt Karls Hand ganz fest, als wolle sie das Schicksal beschwören ihnen gute Jahre zu bescheren. Die Entscheidung war ihr nicht leicht gefallen, der kleine Roman, gerade zwei Monate alt, konnte nicht mit auf die große Reise.

Aus dem Sudetenland heimgekommen, lebten Carl, Lucie und die beiden Töchter ab 1945 in einem kleinen Fachwerkhäuschen unterhalb der Burg in Altwindeck. Karl hatte keine Arbeit, dafür Muße seiner Leidenschaft, dem Malen, nachzugehen. Mit rascher Hand skizzierte er Landschaftsimpressionen, probierte immer wieder neue Techniken aus. Er tauschte die Bilder gegen Lebensmittel und stellte erstmals seine Bilder, mit beachtlichem Erfolg, in einigen Städten aus. Im Sommer 1947 bot Karls ehemaliger Chef ihm einen Zwei-Jahresvertrag der argentinischen Regierung an, Fachkräfte wurden gesucht. Im Februar kam der kleine Roman auf die Welt, doch auf Anraten der Kinderärztin sollte er bei den Großeltern Kleinjohann in Siegen bleiben, denn eine Nacht- und Nebelaktion in die Schweiz stand bevor, da von Deutschland keine Ausreisepapiere zu erhalten waren. Eine Woche versteckte sich die Familie bei einem Schneidermeister, der Menschen über die Grenze schmuggelte. Sein Bruder, ein Zollbeamter, durfte vom zwielichtigen Treiben nichts mitbekommen. In einer mondlosen Nacht trug Karl seine Töchter durch einen Bach über die Schweizer Grenze.

Belgrano, ein Vorort von Buenos Aires, ist die erste Station der Familie, und es folgt monatelanges Warten darauf, wie es weitergeht. Karl, der jetzt Carlos gerufen wird, nutzt die Zeit, um Kontakte zu knüpfen und findet mehrere Galerien, die seine Bilder ausstellen. Mittlerweile ist es Sommer geworden und schwül-heiß. Doris hat sich einen Sonnenstich geholt, und die Eltern sind in Panik, sie phantasiert und sieht Schlangen auf sich zukommen, mit aller Gewalt müssen die Eltern sie im Bett halten. Endlich kommt die Nachricht zur Weiterreise, ihr Ziel ist vorerst Alta Gracia in der Provinz Córdoba, bevor sie etwas außerhalb, auf dem Gut „La Chirola“, mit einer anderen deutschen Familie jeweils einen L-förmigen Flachbau mit einem kühlen Patio beziehen. Es ist das Land der Gauchos, mit Weideflächen für Tausende von Rindern im Schatten des Ombúbaumes – der argentinischen Eiche und Nationalbaum. Über den Ebenen liegen die noblen Estancias der stolzen Besitzer. Die Pampa ist hügelig und karg, mit Sträuchern bewachsen, 800 Kilometer von Buenos Aires entfernt und im Westen das Gebirge, die Sierra de Córdoba, im Rücken.

Morgens kommt der Lastwagen vorbei und lädt Carl und seine Kollegen Werner Sander und Ernst Demmer aus Schladern auf, die ebenfalls die Gelegenheit genutzt haben der Arbeitslosigkeit zu entkommen. Sie fahren eine Stunde bis zur Arbeitsstelle am Rande der Berge. Die Mädchen sprechen mittlerweile gut spanisch und gehen im weißen Kittel zur Klosterschule. Sie führen ein unbeschwertes Leben auf dem Land mit Hunden, Katzen und Pferden, im Hof wandern die Hühner umher. Ist die größte Hitze vorbei, versorgt Lucie den Garten. Mit Einbruch der Dämmerung treffen sich an lauen Sommerabenden die Nachbarn, saftige Steaks bruzzeln auf dem Grill, im Hornero, einem Backofen aus Lehm, wird Brot und Pizza gebacken. Ein Junge aus der Nachbarschaft spielt am Lagerfeuer Gitarre. Im nah gelegenen Bach wird gebadet und die Haut vom trockenen Staub befreit. Die Kinder haben gelernt, sich vor Schlangen und Vogelspinnen in Acht zu nehmen.

Im Januar 1950 übergeben die Großeltern den zweijährigen Roman einer Stewardess am Frankfurter Flughafen. In Argentinien ist Hochsommer und Urlaubszeit, Carl kann keine Fahrkarte nach Buenos Aires bekommen, sein Chef holt Roman vom Flughafen ab. Der Gutsbesitzer von „La Chirola“ stellt Carl seine Fahrkarte zur Verfügung und so nimmt Carl, mit einigen Tagen Verspätung, den kleinen Roman in Empfang. Mit dem Bus reisen sie zurück und als Carl auf Lucie zeigt und sagt: „Guck mal, da ist deine Mama“, entgegnet Roman, „nein, das ist Tante Gertrud (Schwester von Lucie)“, denn er kennt seine Mutter nicht. Abends, wenn er ins Bett geht, singt Roman das Lied, das die Oma ihm beigebracht hat „Roman klein, ging allein in die weite Welt hinein, ....und die Oma weinte sehr, hatte keinen Roman mehr …“, und dann weinte er bitterlich.

Carls Vertrag lief aus, doch die Zukunft war schon geplant. Mit Heinz Landau, einem Juden, der bereits 1937 eine Fabrik aufgebaut hatte, richtet er eine zweite Werkstatt für Apparatebau in Buenos Aires als Mitinhaber ein. Sie produzieren Destillationsapparate für die Schnapsbrennerei und Färbekessel. Für Carl sind es einträgliche Jahre, in denen er viele neue Apparate austüftelt. Hundhausens sind gesellig, viele Deutsche leben in Argentinien, die aus unterschiedlichen Gründen ausgewandert sind. Sonntags nach dem Besuch der Synagoge schaut Alfred Seligmann, ein emigrierter Jude aus Rosbach, mit seiner Familie regelmäßig vorbei. Eines Tages, 1955, kommt Post von den alten Großeltern, die Oma hatte einen Schlaganfall und möchte die Enkel noch einmal sehen, die Regierung in Argentinien steht kurz vor einem Putsch. Die Familie befindet sich an einer Schwelle, entweder man geht jetzt oder bleibt für die nächsten Jahre. Doris ist im heiratsfähigen Alter, Renate verlässt die Schule, und Roman soll eingeschult werden.

Die Freunde stehen am Hafen und winken zum Abschied zur „Andrea Dodero“ hinauf, manche Wege werden sich später wieder kreuzen. Doris hat ihrem Freund Horst Berger das Versprechen gegeben wiederzukommen und ihn zu heiraten. Sie hält ihr Versprechen und wird ihn 33 Jahre später abholen und mit ihm in Schladern leben. Carl wird in seiner Heimat ein bekannter Maler und an die 2000 Bilder malen. (sc)

Artikel nach der Erzählung von Doris Hundhausen erschienen 2012 in News - Das Magazin

 

Burg-Windeck-Straße 5
Windeck, Nordrhein-Westfalen.
Deutschland ,51570

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