Die Wanderjahre des Carl Hundhausen - Teil 1

Text | Weltkriege, Personen | Freitag, 01 Januar 2021

Die Wanderjahre des Carl Hundhausen

Teil 1 (im Sudetenland)

Von Sylvia Schmidt

Wann immer es geht, besuchen die kleine Anna Lucia Kleinjohann und ihre Schwester Gertrud aus Siegen ihre Großeltern Heinrich und Josefa Kleinjohann in der Burg-Windeck-Straße in Schladern (heute Haus Brauner) und spielen mit den Nachbarssöhnen Karl und Emil Hundhausen. Während Emil sich von Gertrud umgarnen lässt, ist Karl von der hübschen Lucie begeistert. Ihre dunklen Lockenkringel, sein glattes schwarzes Haar, ihr liebreizendes Gesicht und seine klassischen Züge, ergänzen sich gut. Karl (später Carl) ist ein Heißsporn, unstet und begeisterungsfähig. Die ruhige, bodenständige Lucie ist eine ideale Partnerin für ihn. Im Jahr 1939 besteigt das junge Ehepaar, 27 und 28 Jahre alt, an der Hand Töchterchen Doris, den Zug, der ein neues Kapitel in ihrem Leben aufschlagen wird.

„Ihr kommt mit einem Köfferchen zurück“, prophezeit der Schwiegervater Heinrich Kleinjohann aus Siegen dem Kupferschmied und Maler Karl und dessen Frau bei ihrer Abreise nach Tetschen-Bodenbach im Sudetenland. Karls überdurchschnittliche handwerkliche und technische Begabung ist der Firma Schmidding (Apparatebau) nicht verborgen geblieben und so versetzte man den Meister von Köln nach Hannover und nun als Abteilungsleiter nach Bodenbach.

Eine schöne große Vier-Zimmer-Wohnung erwartet die drei, und das Leben lässt sich gut an. Karl liebt Menschen um sich herum und findet leicht und schnell Kontakte; egal an welchem Ort der Erde er sich gerade aufhält. Vom Krieg merkt man im verschlafenen Bodenbach wenig, die Firma produziert kriegswichtige Apparate und damit bleibt Karl vom Soldatenleben verschont. Im Sommer unternimmt die Familie, zu der sich 1941 noch die kleine Renate gesellt, ausgedehnte Wanderungen. Karl angelt in der Elbe, und im Winter werden die Kufen von Skiern und Schlitten blank poliert.

Jede freie Minute widmet Karl der Malerei und besucht nun Kurse bei den Professoren Bibus und Pillhatsch in Tetschen. Sein erstes Bild, ein kleines Blumenmotiv, malte er mit 21 Jahren (heute hängt es im Heimatmuseum in Altwindeck). Bis in seine späten Jahre bestimmen Beruf und Berufung sein Leben. Vielleicht erst Gegengewicht zur betonten Sachlichkeit im Beruf, wird die Malerei immer wichtiger. Stark vom Impressionismus beeinflusst, hält Karl Eindrücke der farbflüchtigen Erscheinungswelt der Natur fest. Der unstete Karl, der sich von seiner Frau oft anhört, „du bist ein halber Zigeuner!“, hält Atem und Stille der Landschaften fest.

Mittags kommt Karl zum Essen nach Hause, bis er eines Tages auf dem Heimweg, bei der Suche nach Soldaten, die sich vor dem Einsatz drücken, aufgegriffen wird. Er kann beweisen, dass er freigestellt ist, doch der Krieg und seine Gefahren sind näher gerückt, und er bleibt tagsüber im Betrieb. Für die Kinder stehen jetzt kleine Köfferchen mit Spielsachen bereit, denn die Nächte verbringen Hundhausens immer öfter bei Fliegeralarm im Keller. Auf dem Rückweg sehen sie manchmal die Toten, die beim Einschlag der Bomben getroffen wurden.

Und dann, die unvergessliche Nacht, 1945: die Russen sind bereits in die Tschechoslowakei einmarschiert. Eines Abends klopft es laut an der Tür. Geistesgegenwärtig steckt Lucie ihre beiden kleinen Töchter ins Ehebett und verschwindet im angrenzenden Badezimmer. Karl öffnet die Türe, bevor sie eingetreten wird. „Wo ist Frau?“, wollen etliche russische Soldaten wissen. (Wahrscheinlich hatten sich Karl und Lucie auf eine solche Situation vorbereitet, denn...) Karl antwortet kühn ohne sich seine Todesangst anmerken zu lassen: „Sie ist Krankenschwester und nicht zu Hause.“ Die Soldaten durchsuchen die Wohnung und jedes Mal wenn sie die Schlafzimmertüre öffnen, beginnen die Kinder lauthals zu weinen, sodass die Soldaten die Türe schnell wieder schließen. Karl tischt Essen und Trinken auf und spielt endlose Stunden bis zum Morgengrauen auf der Geige, um die unwillkommenen Gästen zu besänftigen, während Lucie am ganzen Leibe zitternd im Badezimmer hockt, geschützt vom Weinen der Kinder. Irgendwann sind die Soldaten des Wartens und vom Alkohol müde und ziehen unverrichteter Dinge ab.

Unverzüglich planen Karl und Lucie die Flucht. Tschechische Bekannte besorgen gefälschte Papiere, dafür soll Karl Schmuck über die Grenze schmuggeln. Lucie näht den Schmuck in die Unterhose und Karl baut aus den Fahrrädern der Kinder kleine Wägelchen, die bei Nacht und Nebel mit dem Notwendigsten bepackt werden. Acht Tage versteckt sich die Familie bevor es mit dem Güterzug weiter nach Hof geht. Die Reise ist lang und strapaziös, die Kinder müssen bei Laune und ruhig gehalten werden. Unterwegs steigen Soldaten zu und durchsuchen jeden Mitreisenden einzeln. Karl stellt seinen Rucksack vor der Tür ab. Als er wieder herauskommt, schnappt er den Rucksack und will gehen, doch die Soldaten haben ihn beobachtet und nun wird er gefilzt und muss sich bis auf die Unterhose mit dem Schmuck ausziehen. Finden die Soldaten den Schmuck, wird es ihn das Leben kosten. Aber Lucie hat gute Arbeit geleistet, der Schmuck wird übersehen. Leichenblass kommt Karl von der Untersuchung und schwört sich, nie wieder für andere etwas zu schmuggeln. Er flüstert seiner Familie zu: „So schnell wie möglich von hier weg, dreht Euch nicht mehr um.“

Nach einer langen Odyssee mit vielen Stationen treffen Lucie, Karl und Kinder eines Tages in Schladern ein, in der Hand nur ein kleines Köfferchen, wie der Schwiegervater aus Siegen es prophezeit hatte, aber in drei Jahren wird die Familie wieder auf Reisen gehen, nur diesmal viel weiter, über den Atlantik nach Südamerika, aber das ist eine andere Geschichte.

 

Burg-Windeck-Straße 5
Windeck, Nordrhein-Westfalen.
Deutschland ,51570

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