Frühling im Kopf oder Heimgang an einen verwunschenen Ort

Text | Dorfgeschichten, Personen | Montag, 22 Juni 2020

Zum 3. Todestag im Andenken an Birgit Kolb, geb. Wehner

Von Sylvia Schmidt

* 30. Dezember 1960 – + 22. Juni 2020

Gründungsmitglied, Kassiererin und die Erfinderin unseres Vereinsnamens „Windeck im Wandel“, WiWa.

Kurz vor Birgits Tod habe ich ihr versprochen, dass ich etwas über sie schreiben werde, damit sie nicht vergessen wird. Wir hatten allerdings kaum noch Zeit für Gespräche, Birgit war schon zu schwach. Ich machte mir damals Notizen, mir war aber klar, dass ich dafür noch keine Form hatte, denn es war einfach nicht genug Material für irgendetwas. Wir kannten uns zwar seit fast 40 Jahren, doch erst kurz vor Ende ihres Lebens führte uns der Weg ganz eng zusammen, als Birgit und Uwe, ihr Mann, im Herbst 2016 meine Nachbarn wurden. Neulich beim Aufräumen fand Uwe Birgits WiWa-Mappe und fragte mich, ob ich es durchschauen wolle. Das wollte ich natürlich, erwartete aber nichts Großartiges.

Was ich vorfand rührte mich zutiefst. Neben nicht mehr aktuellem WiWa-Kram, fand ich auch diesen Zettel.

Hier hat Birgit Schriftzüge für WiWa ausprobiert, denn unser Vereinsname „Windeck im Wandel“ ist ihrem Kopf bei der Gartenarbeit entsprungen.
In der Kladde fand ich aber auch Dinge, die dort gar nicht hineingehören, oder doch? Als ich die sah, wusste ich sofort, jetzt kommt zusammen, was mir die ganze Zeit gefehlt hatte, um mit Schreiben beginnen zu können. Alle Wege führen nach Bettenhagen, den kleinen Weiler an der Grenze von Waldbröl nach Windeck gelegen. Bettenhagen war ihre Seelenlandschaft, sie hat es in sich aufgesogen. Sie liebte ihr Elternhaus dort über alles. Als die Familie auf Wunsch von Birgits Mutter in das Haus am Waldbröler Busbahnhof zog, war Birgit etwa 16 bis 17 Jahre alt. Es war für sie wie der Weltuntergang, es hat ihre Welt, es hat sie aus den Angeln gehoben. Viele unserer Gespräche drehten sich um diesen Einschnitt, den sie nie ganz verwunden hat, für sie war es der Rauswurf aus dem Paradies. In unseren letzten Gesprächen drehte sich alles um ihre Kindheit in Bettenhagen.

Birgits Elternhaus in Bettenhagen

Wenige Tage bevor Uwe mich wegen der Mappe anrief, hatte ich im Fernsehen einen Beitrag über eine Ausstellung der Blütenkünstlerin Rebecca Louise Law - www.rebeccalouiselaw.com. - gesehen, die bis Ende August 2023 in München eine Ausstellung im Kunstmuseum hat. Ich war wie elektrisiert, als ich ihre Blütenkunstwerke im Fernsehen sah und später im Netz ihre weltweiten Ausstellungen googelte. Ohne eine Sekunde nachzudenken war ich mir gewiss: „Da ist Birgit also hingegangen, deshalb ist sie mir seit ihrem Tod bislang so unwirklich fern. Genau da würde ich auch hingehen und nichts mehr von mir hören lassen.“ Was diese Künstlerin erschafft, es ist das Himmelreich, und zwar eines, dass ausschließlich aus Millionen von getrockneten Blumen besteht. Sie gibt ihnen ein neues Leben nach dem Tod.

Mit Birgits Erlaubnis darf ich erzählen, was sie mir kurz vor ihrem Tod erzählte. Zur Unterstützung nehme ich noch etwas Material aus Birgits Nachlass dazu.

Frühling in Bettenhagen

Birgits Mutter Christel in Bettenhagen.

Das folgende Gedicht über Bettenhagen im Mai stammt von Birgits Mutter. Es lag in der WiWa-Mappe.

Beginnen will ich aber die Zeitreise im April 2020.

Birgit und ich telefonieren miteinander. „Du musst den Frühling in deinen Kopf lassen“, sagt sie im festen Brustton der Überzeugung auf meine Frage, die sich zu dieser Zeit wohl jeder stellt, der mit ihr in Berührung kommt: Wie kann sie so gelassen und fröhlich sein? Sie wird bald sterben, und sie weiß es. Als sie mir dann noch präzise den lieblichen Geschmack von Hagebuttentee und Brei mit Früchten beschreibt, den sie morgens isst und auf den sie sich abends schon freut, bin ich mir gewiss: Ich habe es mit etwas Außerordentlichem zu tun. Wenn sie davon erzählt, scheint sich die Sonne mit ihrem Frühstück mischen zu wollen, vermutlich unwiderstehlich angelockt von der Fröhlichkeit in ihrer Stimme.

„Frühling im Kopf“, die Formulierung an sich haut mich schon um. In Verbindung mit Birgits kulinarischem Highlight, Hagebuttentee mit Brei, serviert sie mir das Wesen des Glücks als letzte Wahrheit im Angesicht des Todes. Zutiefst bescheiden kommt es daher, es greift gewiss nicht nach den Sternen, es ist auch für die da, die nur noch auf dem Sofa liegen können, und die monatelang durch die Chemotherapie vom Essen angewidert waren.

Seit Anfang des Jahres verbringt Birgit ihre Tage auf der Couch im Wohnzimmer mit Blick auf die Terrasse. Die Metastasen im Bauch sorgen dafür, dass ihr Körper sich schnell mit Wasser füllt, das auf ihre Lunge drückt, die Elefantenbeine lassen nur noch wenige Schritte zu. Was Birgit kann ist klar denken. Das Glück ist also da, wo man auch auf dem Sofa liegend hinkommt, immer in der Nähe, jederzeit, immer. Nicht weil ich es behaupte, sondern weil Birgit es für sich so bestimmt hat.

Birgit mit dem Feenstein aus Island, der unbedingt erwähnt werden soll, wenn ich über sie schreibe.

Der Nachlass ist geordnet, ein Zimmer im Hospiz angeschaut und beantragt, die Beerdigung ist vorbereitet. Nur die Musik - Birgit hat eine schöne Singstimme und auch ein ausgezeichnetes Gehör, das soll, wenn es soweit ist, nicht beleidigt werden. Sie wünscht sich Schuberts „Ave Maria“. Nur, wer soll, wer kann es singen? Wir sind hier nicht in der Scala oder der Met, wir sind hier auf dem Dorf. Und überhaupt ist ein einziges Lied für so eine endgültige Sache, erst recht für so eine außerordentliche Person, nicht genug, finde ich. Ich schlage „Immer wieder geht die Sonne auf“ von Udo Jürgens vor, für meinen Geschmack sehr passend für jemand, der mit Frühling im Kopf in den Himmel aufsteigen möchte.

Birgit kann dem etwas abgewinnen. Gott sei Dank ist Uwe, ihr Mann, weder knauserig noch engherzig. Er trägt seine Frau auf Händen, was beim Bau ihres Hauses darin gipfelte, dass er die Arbeiter unmissverständlich wissen ließ, dass es um nicht weniger gehe, als seiner Frau ein Paradies zu bauen. Aber ausgerechnet jetzt ist selbst mit finanzieller Großzügigkeit für den gewünschten Gesang nichts zu reißen, weil Udo Jürgens seit ein paar Jahren tot ist. Wer soll für ihn einspringen?

In dieser ohnehin prekären Situation ist es wohlmöglich ganz geschickt, einige ungeklärte Knacknüsse, wie die Vertretung für Udo Jürgens, vor sich herzuschieben. Wir gehen noch einen Schritt weiter, wir erzeugen einfach andere Dringlichkeiten, um Zeit zu schinden.

Im Rahmen dieser wirklich sehr beschränkten Möglichkeiten, haben wir ein wenig an den Stellschrauben gedreht. Wir wollen nicht auf den Tod warten, der sich nicht auf Ort und Zeitpunkt festlegen lassen möchte. Nachdem Birgit die wunderbare Vorlage mit dem Frühling im Kopf geliefert hat, frage ich sie deshalb, ob wir gemeinsam etwas über „Frühling im Kopf“ aufschreiben sollen. Birgit ist sehr erfahren im Jasagen zum richtigen Zeitpunkt.

Der Sommer 2018 ist Qualitätszeit, denn mit der Diagnose Krebs ist Zeit das Kostbarste geworden. Wenn eben möglich ziehen wir jeden Nachmittag los. Hier vergammeln wir schöne Stunden im Kurpark in Herchen.

Wir wenden uns also an den Tod und schreiben ihn an:

„Sehr geehrter Herr Tod,

meine Freundin und ich, wir sind very, very busy. Wir möchten über ein für die Menschheit sehr wichtiges Thema schreiben, über „Frühling im Kopf“. Dazu brauchen wir aber Zeit, richtig viel Zeit. Sie werden verstehen, dass Ihr Besuch in der nächsten Zeit sehr ungelegen käme. Im Dienste der höheren Sache, bitten wir freundlichst um Aufschub der Angelegenheit. Wir danken Ihnen für Ihr wohlwollendes Verständnis und können uns gut vorstellen, dass auch Ihnen bei Ihrem schweren Job ein wenig Aufmunterung gut bekommt. See you later Alligator!“

Aber wie kam der Frühling in Birgits Kopf?

Nun können wir uns gedanklich auf den Weg nach Bettenhagen machen. Birgit hat einen mächtigen Begleiter als Kraftbringer in der schweren Zeit von unserem WiWa-Kollegen Frieder Döring geschenkt bekommen.

Es ist dieser Lava-Brocken vom Fuß des isländischen Vulkans „Eyjafjallajökull“, der im Jahr 2010 aus dem Schlaf erwachte und über weite Teile Europas seinen Ascheregen ausbreitete. In ihm sind zwei typische Lavakristalle gewachsen: Olivin (grün) und Zeolth (weiß). Solche Steine werden in Island häufig als von Elfen bewohnt bezeichnet.
Feenstein - Wie kommt es zur heilenden Wirkung?

(von Frieder Döring für Birgit aufgeschrieben)

Es war eine schöne Vulkaninsel auf der Elfen, Zwerge und Menschen gemeinsam lebten und sich stützten, und die Elfen geben ihr Wissen an die Menschen weiter. Irgendwann glaubten die Menschen nicht mehr an die Elfen und ihre Heilkräfte, sie wollen dort Häuser bauen, wo bisher die Elfen wohnen. Nun verschwinden die Elfen, manche werden unsichtbar, andere verschwinden ganz. Bevor sie ganz gehen, verstecken sie ihr Wissen in Steine. Um das Wissen für die Nachwelt zu erhalten, lassen sie eine Träne darauf tropfen, die zu einem Edelstein wird. Das Wissen ist nur für die Menschen sichtbar, die glauben. Das Wissen und die Kraft sind gespeichert. Die vertriebenen Elfen ziehen sich auf den Vulkan zurück, wo sonst keiner wohnt. Dann bricht der Vulkan aus, Brocken fliegen über die ganze Insel.

Sehnsuchtsort Bettenhagen

Birgit im Museumsgarten in Altwindeck, wo sie für die Lokale Agenda Garten ein Beet pflegte.

Birgit erzählt:

„Das Größte ist es, raus in die Natur zu gehen. Ich hätte auch Wissenschaftlerin, Botanikerin, werden können, ich habe eine Faszination für kleine Blümchen. Als Kind habe ich mich in die Wiese gelegt und beobachtet, was kreucht und fleucht. Pflanzen sind ein Wunder der Natur, immer greifbar, sich dran zu erfreuen ist wichtig.

Ich war stundenlang im Wald unterwegs und habe dem Rauschen vom Bach und dem Zwitschern der Vögel zugehört. Da geht das Herz auf, Tiere überhaupt geben mir mehr als Menschen. Ich war früher viel alleine, Menschen kamen erst später in mein Leben, Tiere und Natur waren meine Spielgefährten. Für Zwerge und Elfen habe ich Häuschen und Tischchen aus Ästen gebaut. Ich habe den Wald gefegt und die Elfen gesehen.

Nah an meinem Kinderzimmer stand ein Ahornbaum, der kratzte bei Wind ans Fenster, klopfte, wisperte. Die Blätter tuschelten, raschelten sehr geheimnisvoll, die Vögel zwitscherten und erzählten.

Der Garten in Bettenhagen



Wie Ballerinas tanzten die Akeleien auf den Stängeln. Eine der schönsten Sachen war es, im Sommer im Liegestuhl im Garten zu liegen, zu sehen wie Bienchen sich über den blühenden Rosmarin freuen. Das Allerhöchste aber war es, mit und ohne Gummistiefel im Schnörringer Bach Richtung Vierbuchermühle auf Entdeckungstour zu gehen und grandios war es, mit den Eltern Picknick zu machen, umgeben von Orchideen, Sumpfwiesen und Schmetterlingen. Die Schafe zogen von Wiese zu Wiese.

Das folgende Gedicht hat Birgits Mutter vom Sommer in Bettenhagen aufgeschrieben, es war in der WiWa-Mappe

Menschen

Ich bin an Menschen nicht so interessiert. Ich habe mir angesehen, was sie machen, nicht was sagen, wie sie sich bewegen, wie sie aussehen. Man sollte sich selbst nicht so ernst nehmen und die eigenen Befindlichkeiten bei Seite stellen, in die Natur gehen und staunen, wie großartig alles ist. Ich kann nicht monatelang nur heulen, das bringt keinen weiter.

Mutter

Meine Mutter war es, die gegen unser aller Willen wegen ihrer vielfältigen Aktivitäten in unserem Haus am Busbahnhof in Waldbröl wohnen wollte. Ich wurde sehr rebellisch.

Sie hat aber auch viel gut gemacht. Als Teenager wollte ich Silvester unbedingt von Bettenhagen auf eine Party nach Waldbröl. Ich war sehr verliebt in einen Jungen. Mein Vater hat ein Riesentheater gemacht, weil es glatt draußen war, er wollte nicht fahren. Meine Mutter hat begriffen, wie wichtig es für mich war. Sie hat mir den Schlüssel von unserem Waldbröler Haus gegeben und hat gesagt „Geh“. Sie hat mir Gebete mit auf den Weg gegeben. Unterwegs hat Herr Schumacher aus Mittel mich mitgenommen und dann Mama angerufen. Die Party war sensationell, ich bin morgens mit dem Bus nach Hause gefahren. Es war wichtig, dass Mama mir das Vertrauen geschenkt hat. Herr Schumacher war später bei meiner ersten und der zweiten Hochzeit mein Standesbeamter.“

Birgits Anekdote vom Beten:

„Papa war schon tot und Mama lebte in einem Heim in Waldbröl, als dort ein Verehrer ihr den Hof machte und nicht lockerließ. Als er sich sogar ein neues Zimmer reservieren ließ, bekam meine Mutter Panik. Was tun? Wir hatten schon öfter zusammen gebetet, das hatte immer funktioniert. Nach drei Wochen stiegen die Preise im Altenheim, die konnte der Verehrer nicht mehr bezahlen und ging nach Köln.“

Birgits Eltern haben für Birgit und ihren jüngeren Bruder Carsten die Geschichten ihrer Familien mit pedantischer Sorgfalt aufbereitet, in Büchern niedergeschrieben. Uwe und ich haben alle Kisten durchgesehen. Ich habe ein paar Kleinigkeiten ausgewählt, die einen kleinen Einblick in Birgits Herkunft zeigen.

Birgits Herkunft

Ihre Eltern, Christel und Raimund Wehner

Das Haus in Bettenhagen stammt aus der Familie von Birgits Mutter, eine geborene Wick. Das Fachwerkhaus wurde von Birgits Großvater in der 1920er Jahren gebaut.
Wie diese Einträge zeigen, haben vor Birgit Generationen ihrer Vorfahren in Bettenhagen gelebt.

Die Bewohner von Bettenhagen

Das Foto mit den Bewohnern von Bettenhagen und Heiner Fuchs mit einem Ochsen ist von 1924 und in Emil Hundhausens „Anno Tobak“ abgebildet.

Der Vater: Raimund Wehner

hat mehrere Bücher über sein Leben für seine Kinder aufgeschrieben.

Raimund Wehner als junger Soldat

Birgits Vater hat es sich dann doch anders überlegt und seine Kriegserinnerungen aufgeschrieben. In der Gefangenschaft waren bereits viele Gedichte entstanden, dieses hat er Weihnachten 1945 in der Kriegsgefangenschaft in den USA verfasst.

Wie sein früh verstorbener Vater wurde Raimund Wehner leidenschaftlicher Eisenbahner

1960 kommt Birgit auf die Welt

In der WiWa-Mappe fanden sich weitere Liebesbeweise

Diesen Brief hat Birgits Mama ihr zum ersten Geburtstag geschrieben. Beide Eltern schrieben sich auch gegenseitig ein Leben lang Briefe, die habe ich nicht angerührt.

Dies alles ist ein bruchstückhafter Einblick in ein Leben, das viel mehr Facetten hatte. Es ist aber womöglich der Teil, der sie auch durch die Stürme getragen hat. Jahrzehntelang trauerte Birgit Bettenhagen nach. Das änderte sich erst, als sie mit Uwe in ihr neues Haus in Dattenfeld vorm Berg einzog. Vom ersten Tag an war sie nach langer Reise endlich zuhause angekommen. Jedes Detail am und im Haus hat sie liebevoll mit Uwe geplant, der Garten war ihr Steckenpferd. Sie hatte eine ganz besondere Beziehung zu Altwindeck und zum Museum. Das hatte sie schon als junges Mädchen kennengelernt und sich sofort unsterblich verliebt, für immer. Als vor wenigen Jahren das Museum in Finanznot war, trat Birgit sofort in den Förderverein ein und hat gespendet. Sie war von Natur aus eine Unterstützerin und griff gerne tatkräftig unter die Arme. An keinem Bettler ging sie vorbei. Birgit war im wahrsten Sinne des Wortes verständig, sie verstand die Menschen meist ganz ohne Worte.

Was bleibt?

Im Jahr 2019 stellte sich WiWa der Öffentlichkeit mit einer großen Veranstaltung in der Halle kabelmetal vor. Als Geschenk für alle Mitwirkenden hatten Birgit und ich den Sommer zuvor den Mohnsamen im Garten meines verstorbenen Nachbarn Hermann Engel gesammelt. Zu den Samentütchen hatten wir die Geschichte aufgeschrieben, damit die Menschen nachlesen konnten, was es mit dem Samen auf sich hat und damit sie ihn zu schätzen wissen.

Das war der Text:

„Engels Mohnmischung“ geht in die weite Welt

Der Zustand, dass mein Nachbar Hermann nicht mehr täglich mehrmals im Garten auftaucht, ist ganz schön gewöhnungsbedürftig. Hermann Engel aus Altwindeck ist am zweiten Weihnachtstag 2017 gestorben. Im folgenden Sommer kam nun seine Witwe Elisabeth öfter an den Gartenzaun. Hermanns Gemüsegarten hatte jetzt der Klatschmohn erobert und blühte reichlich in allen Rot- und sogar Weißtönen. Jeder in Altwindeck weiß, dass der Klatschmohn Hermanns Herzensanliegen war. Auf seinen Spaziergängen betrieb er leidenschaftlich gern Guerilla-Gardening, er ließ unauffällig die Samen zur Vermehrung irgendwo hinfallen. Als Elisabeth mich fragte, ob ich Mohnsamen brauchen könne, fiel mir die Lokale Agenda „Naturnaher Garten“ ein, die immer allerlei Samen beim Burgmarkt und auf der Pflanzenbörse unter die Leute bringt. Und tatsächlich, die Agenda nahm das Angebot freudig an.

Birgit Kolb kümmert sich für die Agenda um den Vertrieb der Mohnsamen.

Elisabeth stellte mir nun alle zwei, drei Tage Töpfchen mit abgeknipsten Samen vor die Türe, wochenlang ging das so, und ich lieferte mehrere Säcke Mohnkapseln bei der Agenda (bei Birgit) ab. Die verpackte das Saatgut in Tütchen unter dem Namen „Engels Mohnmischung“. Mit den Einnahmen hält die Agenda den Museumsgarten am Heimatmuseum in Altwindeck in Schuss.

Wenn ich mir vorstelle, dass Hermanns Saatgut in vielen, vielen Gärten neu sprießen darf, finde ich, dass sein Erbe kaum besser hätte angelegt werden können. Seine Hinterlassenschaft geht nun millionenfach auf Reise in andere Gärten. Die Menge reicht locker, um ganz Deutschland in ein klatschmohnrotes Meer zu verwandeln. Was nicht verkauft wird, das ist immer noch gut für Guerilla-Gardening. Birgit und ich sind in der Angelegenheit aktiv und haben ein paar Kilo in Windeck verstreut. Bis der letzte Samen aufgebraucht ist, machen wir weiter: Versprochen Hermann! Aber Du musst von oben dafür sorgen, dass unsere Rechnung aufgeht. Jetzt, im Frühjahr 2019, ist Hermanns ehemaliger Gemüsegarten wieder übersät – womit wohl? Dreimal dürfen Sie raten.

So wird Hermann vermutlich von oben glücklich lächeln.

Ihnen viel Freude am Klatschmohn, dessen Blüten sich herrlich unter die Butter mischen lassen. Das macht Eindruck auf dem gedeckten Tisch. Übrigens liebt er absolut kargen Boden.
Birgit hatte die restlichen Samen aus Hermanns Garten als Deko in einer Vase gesammelt. Die steht heute in Uwes Wohnzimmer.

Das Foto ist aktuell.

Noch eine Anmerkung zum grünen Stein aus Island: Den habe ich, die Schreiberin, vor fast 30 Jahren zum ersten Mal vor meinem inneren Auge gesehen, er zeigte sich immer mal wieder von selbst, ohne dass ich ahnte, was es damit auf sich hat, ich spürte aber, es ist mein persönlicher Schatz. Es ist schön, dass es mehr gibt, als der Mensch erklären kann. Birgit wusste darum, und ist bestimmt „heil“ angekommen an ihrem verwunschenen Ort. Dort wird auch der Mohn wild wachsen und sie wird, wie sie es immer getan hat, staunen, wie großartig alles ist!“

Fotos: Archiv Uwe Kolb, Sylvia Schmidt

Birgit im Paradies

von Frieder Döring

Liebe Birgit!

Als ich Dich vor drei Jahren kurz vor Deinem Abschied von unserer Welt besucht habe, haben wir uns fast zwei Stunden lang über Deine Zeit in Bettenhagen in Deinen ersten Lebensjahren unterhalten. Du hast die Aufgabe Eures Zuhauses dort im Wick-Haus als Austreibung aus dem Paradies empfunden, und Du wolltest alles dafür geben, um diese Zeit dort nochmal zu erleben. Und ich habe mich gefreut, dass Du so begeistert davon erzählt hast. Und eigentlich hast Du ja alles dafür gegeben: nämlich Dein Leben! Und deshalb waren wir beide überzeugt davon, dass Du jetzt bald in der anderen Welt wieder in Dein Bettenhagener Paradies zurückkommen würdest. Wir haben uns mit einem Kuss verabschiedet, und nachdem ich mir draußen die Tränen abgewischt hatte, war ich mir sicher, dass Du auf Deiner Reise genau dort wieder ankommen würdest.

Ich hatte das Gefühl gehabt, dass ich mich endgültig von einer Tochter verabschiedet hatte. Wie nahe dran ich mit diesem Gefühl lag, ist mir erst klar geworden, als ich mich mit meiner Tochter Katharina, die seit 30 Jahren in Brasilien lebt und die von Weihnachten letzten Jahres bis Ende Januar 2023 bei uns zu Besuch war, über Bettenhagen und über Dich gründlich unterhalten habe. Da meine Frau und ich aus Großfamilien stammten und als Kinder auch bei vielen Tanten und Onkels zu Hause waren, haben wir auch unsere Kinder von klein auf zu Omas, Opas, Tanten und Onkels so oft wie möglich zu Besuch geschickt, vor allem in Ferienzeiten. Katharina war vom ersten bis 15. Lebensjahr, also von 1964 bis ca. 1980, in jedem Jahr mindestens drei bis vier Wochen bei ihrer Lieblingstante Hannelore Fuchs als Vizetochter in Bettenhagen und hat alle Fuchsens, den Fuchs-Hof und den ganzen Ort geliebt, genau wie Du, Birgit! Und natürlich habt Ihr dort miteinander auch gespielt. Zum Beispiel Vater-Mutter-Kind: wobei Udo Fuchs, ihr Cousin, der Vater war, Du die Mutter und sie als die Kleinste, das Kind. Und natürlich hat sie Dich mir auch vorgestellt, als ich sie mal abgeholt habe: „Papa, das ist die Birgit. Die wohnt da unten in dem schönen Haus, und wir spielen oft zusammen.“ Und da wurde es mir auf einmal klar, warum Du mir vom ersten Augenblick an, nachdem ich Dich in Schladern zusammen mit Deiner besten Freundin Sylvia hier wiedertraf, gleich so vertraut vorkamst. Aber wir hatten uns Beide nicht wiedererkannt. Was auch nicht verwunderlich ist, nach der langen Zeit und unserer flüchtigen damaligen Begegnung. Möglicherweise haben wir uns auch auf der 600-Jahrfeier von Bettenhagen im September 1991 mit der Gedenksteinaufstellung für den berühmten Paul von Bettenhagen gesehen, auf der Du sicher auch warst. Denn diese schöne Feier war von Deiner Mutter zusammen mit meinem Schwager Erhard Fuchs ausgerichtet worden. Aber ich erinnere mich nicht, Dich erkannt zu haben. Da waren auch mindestens 500 Menschen um uns herum.

Dann brachte Sylvia mir vor Kurzem die ganzen Akten und Fotos, die Du über Deine Familie und Bettenhagen gesammelt hattest. Und da hoben sich allmählich die grauen Schleier meiner Erinnerung über die 60er und 70er Jahre und Bettenhagen. Mir wurde klar, dass ich Dich schon als Baby im Kinderwagen gesehen hatte, weit vor der Katharina, bei unseren häufigen Besuchen im Fuchshof bei Schwägerin Lore, den Schwägern Herbert und Erhard und ihren Eltern Anna und Heiner Fuchs. Denn in dem Sechshäuser-Dorf Bettenhagen konnte man einander nicht übersehen. Aber dann bin ich natürlich mit Deiner Foto- und Textesammlung auch zum Erhard Fuchs gefahren und habe mit ihm zwei Stunden über Dich und Deine Familie gesprochen. Und genau wie die Katharina hatte mir auch der Erhard berichtet, dass Deine Eltern, Christel und Raimund Wehner, Dein Bruder Carsten und Du etwas Besonderes wart im damaligen „Betten“, wie das Dörfchen im Volksmund hieß. Dein Großvater Gustav Wick, der das hübsche Gründerzeithaus gebaut hat, war noch Bettener Urgestein. Genau wie die Fuchs-Familie lassen sich die Wicks in die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zurückverfolgen, also in die Zeit des Pauls von Bettenhagen und seiner „Knüppelrussen“, und wurden damals durch Heirat auch miteinander verwandt – ebenso wie über ihren Rommener Ableger und über die Schneiders-Familie mit uns. Also hatten wir vor 200 Jahren ein paar gemeinsame Vorfahren! Deine Eltern waren beide musisch und künstlerisch begabt und interessiert, sangen, spielten Instrumente, schrieben sich regelmäßig Briefe, machten Gedichte und Erinnerungstexte von ihrem Leben. Aber die, wie mir scheint, wichtigste Besonderheit war, dass Dein Vater ein halber Ostbelgier war! Deine Oma väterlicherseits stammte aus Vervier bei Lüttich, einer genussfreudigen Region, sprach mit ihren Kindern Französisch und war mit ihnen und später auch mit Dir oft bei ihrer Familie in Belgien. Du hast sehr früh zwei Kulturen gut kennengelernt mit anderer Sprache, besonderem Essen, großer Lebens- und Kontaktfreudigkeit und Neigungen zu jeglichem Schönen vor allem in der Natur!

Dieses wunderbare Erbe hat Dich Dein Leben lang und darüber hinaus begleitet! Und deshalb bin ich mir weiterhin sicher, dass Du jetzt zurückgekommen bist in Deinem Bettenhagener Paradies, und freue mich mit Dir darüber!

Herzliche Grüße, Dein Frieder

 

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Windeck, Nordrhein-Westfalen.
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