Nachkriegskinder

Text | Personen | Montag, 01 Juli 1946

Nachkriegskinder

von Frieder Döring

Das muss so Mitte 1946 gewesen sein, ich war um die dreieinhalb Jahre alt, da sollte im Haus meiner Großeltern in Schladern eine Hochzeit stattfinden. Unsere Tante Leni heiratete den Mann ihrer besten Freundin, die vor kurzem verstorben war, und heiratete deren sechs Kinder mit. Da war dann so viel Betrieb im Großelternhaus, in das wir Anfang 1945 aus Schlesien hin geflüchtet waren, dass meine ältere Schwester Inga und ich für sechs Wochen ausgelagert wurden. Das heißt, wir wurden in ein Kinderheim in Bad Godesberg untergebracht, in dem unsere Tante Helmi Kinderpflegerin war, allerdings bei den größeren Kindern, nicht bei uns Kleinen. Nur an Sonntagen durften wir sie in ihrer Schwesternwohnung besuchen. Dann kredenzte sie uns eine süße Quarkspeise, spielte und bastelte mit uns, und wir waren wieder halbwegs getröstet für die nächste trostlose Woche in einem Heim, in dem nur militärisch kommandiert wurde. Allerdings gab es auch im Alltag Lichtblicke. Nachmittags durften wir bei gutem Wetter eine Stunde draußen spielen. Da nahm mich dann meine Inga an die Hand und zog mich mit ihrer fünfköpfigen Kindergruppe mit, die alle geheimnisvollen Ecken und Verstecke des großen verwilderten Gartens auskundschaftete. So gelangten wir einmal an ein Loch im Zaun und waren natürlich flugs dadurch in einen ebenfalls verwilderten Nachbarpark gekrochen. Dort stießen wir nach einigem Umherirren auf einen völlig zugewachsenen verlassenen Bungalow, dessen Terrassentüre nur angelehnt war. Das war für uns wie eine schriftliche Einladung.

Wir stöberten durch das ganze vollmöblierte Haus, das wie fluchtartig verlassen wirkte, und fanden im Schlafzimmer auf dem ungemachten Bett einen Koffer, den wir selbstverständlich öffneten. Dann stand die ganze Kinderbande staunend darum herum. Es war wie in Tausend und einer Nacht: in dem Koffer lag ein Berg von glitzerndem Gold- und Silberschmuck, mit bunten Edelsteinen bestückt. Jetzt plapperten alle durcheinander und sechs Paar Hände wühlten in den Schätzen. Dann gab`s ein Kostümfest: zusammen mit einigen Klamotten aus dem Kleiderschrank und dem prachtvollen Schmuck waren alle Kinder auf einmal Prinzessinnen und Prinzen. Und als es Zeit wurde, ins Heim zurück zu gehen, beschlossen wir, dass sich jeder ein kleines Schmuck-Andenken mitnehmen durfte. Uns war schon bewusst, dass das irgendwie nicht rechtens war, weshalb wir die Mitbringsel auch schön versteckt hielten. Aber die Kindermäulchen flossen natürlich bei den Freundinnen und Freunden im Heim über. Und so entwickelte sich in der nachmittäglichen Spazierstunde allmählich ein anschwellendes Kindergehusche durchs Loch im Zaun zum Schatzhaus hin, bis dieser Trend den Aufpass-Tanten nicht mehr verborgen blieb. Da gab‘s dann viel Geschrei und Geschimpfe, ja, sogar die Polizei kreuzte auf. Es wurde richtig spannend. Und am Ende mussten alle Kinder ihre Mitbringsel-Schätze wieder abgeben.
Aber der märchenhafte Eindruck, als wir andächtig vor dem geöffneten Schatzkoffer standen, brannte sich in meine Erinnerung ein und war mir mehr wert als so ein Schmuckstück.

Opa Pickhardt mit Töchtern und Schwiegersöhnen, 1946

 

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