Jeeht mal wat dadursch in de Hähnen...

Text | Dorfgeschichten, Personen | Mittwoch, 01 April 1964

Kindheitserinnerungen aus Schladern

von Ulli Vogelpohl

Was macht eigentlich der Friseur meiner Kindheit, fragte sich Ulli bei seinem Schladern-Besuch im August 2022 und klopfte mal an seine Türe. Hans Schmitz war hocherfreut. Foto: Sylvia Schmidt

Schladern, das gibt mir noch heute ein warmes und schönes Gefühl. Schladern, das ist der Ort meiner Kindheit, ein Wohlfühlort!

Ich kam mit meiner Familie, meinem Vater, meiner Mutter und meinem großen Bruder Wolfgang 1964 als Zweijähriger mehr durch Zufall als geplant, in das schöne Haus „In den Hähnen 7“ (heute Burg-Windeck-Str 35).

Mein Vater hatte 1963 als Geschäftsführer den Aufbau der Firma PSG Plastiksack in Rosbach/Mauel übernommen. Für den Nachzug der Familie war eigentlich ein Haus in Rosbach vorgesehen. Aber der Vermieter sagte kurzfristig ab, und so griffen meine Eltern beim Angebot des Herrn Höffer zu, der Mieter für das Haus In den Hähnen suchte. Ein wirklich schönes, man könnte sagen schnuckeliges Häuschen, vom Architekten gut durchdacht und formschön auf einem vielseitigen Grundstück umgesetzt.


Das Haus In den Hähnen 7, Wolfgang, mein Vater (mit Fernglas) und ich (mit Fahrrad) beobachten das fotografierende Flugzeug. 1970

Meine Mutter soll beim Anblick des Hauses alle Vorbehalte, dem Verlassen der alten Heimat in Westfalen gegenüber, spontan in den Wind geschlagen haben. Hier ließ es sich leben.

Meine frühesten Erinnerungen sind ein Sommernachmittag, an dem ich von der Terrasse über eine Bruchsteintreppe in den Garten wollte, in dem der Rest der Familie mit dem verwilderten Garten beschäftigt war. Ich traute mich aber nicht die Treppe freihändig runter und das Geländer war mir zu heiß zum Anfassen. Irgendwie kam ich aber doch ohne Hilfe heil unten auf der Wiese an. So ging es mir während der ganzen Schladerner Zeit. Stück für Stück erweiterte ich meinen Aktionsradius.

Sonnenplatz im Garten. Meine Mutter und ich 1965

Hinter dem Haus ging es eine Böschung hinunter an deren Ende ein kleiner Teich lag. Hier gab es im Frühjahr Tausende von Froscheiern, die ziemlich glibberig waren. Mein Bruder sammelte jedes Jahr welche in Einmachgläsern, um aus den Kaulquappen Frösche zu züchten. Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen Frosch gesehen zu haben, aber dafür viele, viele Kaulquappen, die dann wahrscheinlich irgendwie ihr Ende in unserer Waschküche fanden.

Die erste Erweiterung des Aktivitätskreises ging zu den Nachbarn, Herr und Frau (Red.: Fritz und Maria) Bähner. Ich glaube, das war Liebe auf Gegenseitigkeit.

Frau Bähner und ich vor deren Haustür. Ca 1967

Ich habe viel Zeit bei den Bähners verbracht. Im Winter habe ich beim Holz sägen in der Küche mitgeholfen, und als Lohn oft ein Glas Dunkelbier bekommen. Sobald die Sonne höher kam, klemmte Herr Bähner ein Kissen auf seinen Fahrradgepäckträger und dann wurden “Tourchen” durch Schladern gemacht. Als alter Schladerner Post-Pensionär kannte er Hinz und Kunz und zeigte und erzählte mir viele Geschichten zu den Menschen und Häusern.

Fritz und Maria Bähner mit meiner Mutter beim Kaffeeklatsch. In der Mitte der berühmte Apfelkuchen meiner Mutter

Gegenüber wohnten Walgenbachs. Frau (Gertrud) Walgenbach hatte wie auch Frau Bähner immer viel zu erzählen. Herr (Jakob) Walgenbach versorgte die Villa in deren Giebel der Sinnspruch „Let them say“. stand (Red: damalige Eigentümer: die Geschwister Karin und Eckehard Laupichler aus Köln). Familie Walgenbach wohnte mit ihrem schon großen Sohn Karl-Heinz im oberen Stockwerk. Herr Walgenbach war auch Rentner und beschäftigte sich immer irgendwie mit der Immobilie. Auch kam er manchmal zu uns zum Rasen mähen und Hecke schneiden. Ich war auch bei ihm öfter zum “Arbeiten”, aber bei Bähners hat es mehr Spaß gemacht. Ich glaube, da die Kinder der Nachbarn alle aus dem Haus waren, mochten sie meine Besuche, die natürlich immer unangekündigt waren. Es gab überall offene Türen.

Ein wichtiger Treffpunkt der Nachbarinnen war das Eintreffen des Milchwagens von Frau Thewes aus Dattenfeld. Da konnte man, wenn man es schlau anfing, immer einen Weingummiteufel kriegen. Wenn meine Mutter mal nicht in Geberlaune war, waren meist Frau Bähner oder Frau Walgenbach spendabel.

Thewes Milchwagen. Foto: Archiv Heinz Thewes

Zum Morgenprogramm gehörte ebenfalls Johannes, der Briefträger (Johannes Koch aus Wilberhofen, der als Spätberufener noch Priester wurde und jetzt im Ruhestand ist). Der hatte schon ein ganzes Wegstück hinter sich, wenn er In den Hähnen ankam. Bei Bähners machte er dann erstmal Frühstück und musste das Neueste aus dem Dorf berichten. Ich habe ihn als recht plauderige Frohnatur in Erinnerung. Den Inhalt der Ansichtskarten für uns teilte er schon vorm Überreichen mit: „Schöne Jrüsse von Tante Hanni. Auf Baltrum scheint die Sonne… .“

Ein großes Ding war auch die Verlegung der Kanalisation vor unserem Haus. Ich bewunderte die Arbeiter, die den ganzen Tag schaufeln durften und sich zur Mittagspause einfach auf einen Stein setzen konnten und nicht am Küchentisch sitzen mussten. Mein Berufswunsch “Straßenarbeiter” stand endgültig fest, nachdem ich gesehen hatte, wie ein Arbeiter eine ganze Dose Fisch in Tomatensauce ohne Brot gegessen hatte. Die hatten nicht nur eine tolle Arbeit, die hatten auch viel Geld. Da war ich mir sicher.

Eine berufliche Alternative wäre Bauer gewesen. Wir besuchten öfter übers Wochenende die Familien meiner Eltern in Neubeckum im Münsterland. Wolfgang schlief dann mit meinem Vater in dessen Elternhaus bei seiner Schwester und seinem Bruder. Ich war meistens mit meiner Mutter auf dem Bauernhof meines Onkels Willi, der den Hof von meinem Opa übernommen hatte. Meine Oma lebte auch dort, bei ihr schlief ich oft im ehemaligen Bett meines Opas. Auf dem Hof war immer was los. Die Geschwister meiner Mutter samt Familie kamen oft vorbei und man konnte super spielen, im Heu, in den Ställen und draußen. Man durfte sich aber nicht von Onkel Willi erwischen lassen, wenn man die Tiere extra fütterte. Ich erinnere mich an wilde Fangspiele. Einmal lief ich quer durch die Scheune, um am anderen Ende über ein Brett zu entkommen, das quer über den Misthaufen gelegt war, um den Dung der Tiere mit einer Karre gleichmäßig zu verteilen. Meine Kusine rief von hinten ich solle zurückkommen, aber auf den Trick fiel ich nicht rein, sondern gab noch mal extra Gas. Plötzlich sah ich den Grund ihrer Warnung, das Brett war nicht da. Ich landete weich aber geruchsintensiv mit meinen Sonntagssachen auf dem Misthaufen. Die Rückfahrt nach Schladern wird von landwirtschaftlichen Düften geprägt gewesen sein.

Wolfgang, mein Vater und ich 1965. Die Sonntagsausflüge in Schladern gingen meistens in den Wald.

Eine Rückfahrt ist mir in Erinnerung geblieben. Da sich die Reise oft in den Abend zog schliefen Wolfgang und ich oft ein. Sehr bequem war es, sich dabei lang zu machen. Wolfgang lag dann auf dem Rücksitz und ich auf der Hutablage unseres Opels. Das war ein prima Platz. Ich konnte im Halbschlaf den Verkehr beobachten und dann langsam wegschlummern. Ein robustes Bremsmanöver meines Vaters, der einen sehr offensiven Fahrstil pflegte, brachte mich von meinem Ausguckposten mit Zwischenstation auf meinem Bruder unsanft und mit Rums in den Fußraum der Hinterbank. Zum Glück mal wieder nix passiert. Der Schutzengel hatte wie so oft aufgepasst. Ab da war der Ausguck auf der Hutablage dann allerdings verboten. Und Bauer werden war auch nix mehr für mich, da durch die vorabendlichen Serien, die ich mit meinem Bruder schaute, ganz klar war, ich werde Kommissar. Was ich meinem Opa auch deutlich zu verstehen gab, als er mich mal fragte, ob ich seinen Hof übernehmen und Bauer werden wolle!

Mobilität war ein wichtiger Faktor zum Entdecken meiner Welt. Angestachelt durch die tollen “Tourchen” mit Herrn Bähner nahm ich mir das Fahrrad meines Bruders vor und lernte alleine das Fahrradfahren. Jede Stunde ein Auto auf der Straße, da konnte nicht viel passieren. Von Bähners bis zur Kurve bei Theis war die Straße gerade und flach. Da konnte nix anbrennen, dachte ich. Nachdem die ersten Kurbelumdrehungen saßen, verlief hier meine Rennstrecke, bis plötzlich ein Hindernis auftauchte. Mitten auf der Straße stand plötzlich Frau (Grete) Bellingen mit ihrem Dackel und mit Einkaufstasche. Die Lücke, die ich mir zum Ausweichen suchte, wurde dummerweise auch von ihr favorisiert, ja, und bremsen, das wusste ich noch nicht, wie das geht. Von der Kollision habe ich ein Bild im Gedächtnis: Frau Bellingen kippte schimpfend seitwärts an die Böschung von Walgenbachs, ihr Unterrock wurde sichtbar, die Tasche lag auf dem Boden, und der Dackel bellte was das Zeug hielt. Wie es weiterging weiß ich nicht mehr. Jedenfalls ist mir dieser Crash als erster von vielen in Erinnerung geblieben.

Mit dem roten Fahrrädchen ging es dann auch mit Herrn Bähner durchs Dorf zum Siegwasserfall, Haus Schöneck und Bauer Mikus oder zum Bahnwegelchen Richtung Dattenfeld. Und überall gab es Leute, die er kannte und mit denen er quatschte. Herrlich! Da fühlte ich mich sehr dazugehörig und habe, glaube ich, auch öfter meinen Senf dazu gegeben und die Schladerner Welt kennengelernt. Das Fahrrad hat mir dann auch ohne Herrn Bähner eine weitere Welt eröffnet.

Wenn man durch Theis Kurve war, kam bald das Haus von Dr. (Walter) Roith. Wolfgang war mit seinem Sohn Stefan befreundet. Der Vater wurde bei Krankheiten und Unfällen konsultiert oder machte Hausbesuche. Er hatte eine sehr tiefe Stimme. Daneben wohnte Dr. Refke. Der war Tierarzt und hatte im Garten sein Pferd stehen.

Im Anschluss, vor Ernst Krämers Lädchen (Red.: heute Finkenweg 5), stand das Haus der Familie Salz auf einer großen Wiese. Peter war auch ein Freund von Wolfgang. Elisabeth und Heike Salz waren meine ersten Freundinnen. Hinter deren Haus gab es ein Gebüsch und darin war eine Bude. Eine Nachbarin, Frau Weinbrenner, hatte ein altes Nachtschränkchen gespendet, das jetzt der Hausstand war. Irgendwie gab es auch noch einen alten Topf, und Heike kochte als Mutter, was das Zeug hielt. Elisabeth musste immer das Kind spielen, was sie eher langweilig fand, und ich als Vater musste arbeiten. Das hieß mal Holz sammeln, mal Fahrrad fahren. Aber meistens dauerte es nicht lange bis Elisabeth und Heike sich in den Haaren hatten, die konnten sich prima streiten. Aber sie waren auch sehr patent. Als ich im Matsch eines Neubaus am heutigen Sonnenhang mit meinen Stiefeln stecken blieb, besorgten sie eine Schüppe, gruben mich aus und ließen mich nicht im Dreck stecken.

Manchmal bekam ich Sonntagsgeld, eine Mark. Da konnte ich auf dicke Hose machen. Ich machte dann manchmal mit Heike und Elisabeth ein Ausflug zur Burg. Oben angekommen, kauften wir an einem Haus mit Eisfahne für jeden ein Minimilk für 20 Pfennig. Mmmh lecker, und noch Geld über. Super! Also nochmal zur Bude. Aber für den Rest gab es nur noch zwei Eis. Also eins für mich, ich war ja der Spender. Das andere für die beiden Mädels. Uiuiui, da kam es schnell wieder zu Zoff. Die Eisverkäuferin hatte dann ein Einsehen und stiftete noch ein Eis und somit sonntäglichen Frieden.

Ein anderes Mal ging ich zu Ernst Krämer und fragte ihn, was ich für eine Mark kaufen könne. Nach seinen verschiedenen Vorschlägen entschied ich mich für 20 Cola-Lutscher. Die hielten dann erstmal eine Weile vor.

Mit dem roten Fahrrad ginge es auch im Sommer bei gutem Wetter mit Wolfgang und meiner Mutter nach Rosbach ins Freibad. Das war eine Weltreise, aber dank des Ziels zu schaffen. Der Hammer war der Berg in Lindenpütz. Auf dem Hinweg noch im Sattel zu schaffen, aber auf dem Rückweg, null Chance. Kurz nach dem Start am Freibad stand man vor der gefühlt senkrechten Wand. Alp d`Huez ein Witz dagegen, eher Eiger Nordwand. Da wurde geschoben und geschwitzt was das Zeug hielt. Die ganze Erfrischung des Nachmittags im Eimer. Aber dafür ab Gipfel Abfahrt bis zur Sieg, ein Rausch! Und bremsen hatte ich ja gelernt. Vor unserem Haus sammelten sich die schwarzen Bremsspuren auf der Straße und der Kies auf den Vorgartenwegen wurde auch ordentlich gepflügt.

Apropos bremsen, da gab es noch ein Fahrradereignis. Irgendwie war ich mit meinem Bruder und anderen Jungs aus der Nachbarschaft mit Fahrrädern auf dem Schulhof der heutigen Bodenbergschule. Als es wieder nach Hause gehen sollte war bei mir die Kette ab. Mist! Mein Bruder bestimmte, ich hätte das Rad den Berg (Elsternweg) herunter zu schieben. Pööh, hast du doch nicht zu sagen, wie ich hier runterkomme. Ich setzte mich auf mein Rad und rollte los. Auf der Hälfte des Weges wurde mir langsam bewusst, das war eine doofe Idee. Im letzten Drittel des Berges wurde mir panisch klar, das geht nicht gut aus, wie soll man mit dem Speed um die Kurve hoch In die Hähnen kommen. Im letzten Viertel des Weges, kurz vor dem Einschlag, sah ich meine Mutter bei Rötzels vom Einkaufen um die Ecke kommen. Ein panischer Schrei: Mamaaa…rums. Ich knallte vor den Bordstein von Sams Garten, machte samt Rad einen Salto über den Gartenzaun und landete auf der Wiese, neben dem steinernen Gartenweg, ohne größere Blessuren. Wie noch oft in meinem Leben hatte mein Schutzengel ganze Arbeit geleistet. In Erinnerung bleibt mir von diesem Tag noch eine Abschlussszene. Ich lag unter der karierten Decke auf dem Sofa im Wohnzimmer, wahrscheinlich noch schockgefrostet und Opa Bähner kommt rein und sagt…Dein Rädchen is wieder repariert, kanns morjen wieder loslejen.

Der Lebensradius erweiterte sich. Nicht immer zu meinem Vergnügen.

1968 kam ich in die Schule zu Frau Lübke. Ich hatte vom ersten Tag an keine Lust, und das sollte über viele Jahre so bleiben. Aber der Mensch ist ein Gewohnheitstier, und auch ich gewöhnte mich an die lästige Pflicht. Im ersten Jahr lief es aber auch echt nicht rund. In den ersten Wochen litt ich sehr an dem Zwangskontext. Ich war nur freie und selbstbestimmte Zeit gewohnt. Frau Lübcke nervte nicht nur mit dem Diebstahl des Vormittags, sie quälte auch noch meine wenig ausgebildete Feinmotorik mit dem Schreiben von Buchstaben, Zahlen und ganzen Wörtern. Und kaum hatte man was einigermaßen gelernt, prompt kam wieder was Neues. Und zuhause sollte der Mist auch noch nachmittags weitergehen. Ein Elend.

Erster Schultag 1968

Von links: Frau Lübke, Bärbel Volkmar, Hansi Mielke, Monika Sams, Dietmar Rutz, Beatrix Käsberg, Ulli Vogelpohl (mit skeptischem Seitenblick), Brigitte Platziowski, Mathias Rötzel, Frank Hoppe, Peter Silvester, Norbert Seidel, Hans Jörg Müller

Völliger Sinnverlust beschlich mich als der Augenarzt bestimmte, dass mein besseres Auge zugeklebt werden sollte, um das Schwächere zu trainieren. Ich sah nix mehr und sollte dann zentimetergroße Buchstaben in Zeichenblöcke malen, auf die meine Mutter zuvor die Erstschuljahrlinien gemalt hatte. Es gab viel Streit und Tränen. Die Krönung des ersten Schuljahres war dann ein sechswöchiger Aufenthalt in der Augenklinik auf dem Venusberg in Bonn, wo meine Augenfehlstellung operativ gerichtet wurde. Prost Mahlzeit! Wenn der Rest meiner Schulzeit auch so wäre, würde ich am besten gleich kündigen und Straßenarbeiter werden.

Letzter Schultag in Schladern 1971.Jahrgang 1 -3, Klasse von Frau Lübke (Auflösung der Gemeinschaftsschule Schladern).

Obere Reihe: Frank Hoppe, Markus Jasser, Dominique D'antonio, Thomas Rötzel, Hardy Gerlach, Hans Jörg Müller, Joachim Langen.
2. Reihe: Renate Lübke, Silvia und Ute Schröder, Beatrix Käsberg, Bärbel Volkmar, Jürgen Kötting.
3. Reihe: Hansi Mielke, Peter Silvester, Ute Adams, Ulli Vogelpohl, Gabi Silvester, Annette Hundhausen, Gabi Mikus, Stefan Augustin, Gabriele Sams, Jörg Dressler, Sabine Götze, Andreas Scheunert.
Untere Reihe: Bernd Schmidt, Gundela Krahn, Georg Hammer, Christoph Geilhausen, Helge Hundhausen, Claudia Wehner, Elisabeth Salz, Michaela Holzbrinck, Heike Wick..

Die Klinik am Venusberg war schon eine besondere Erfahrung. Ich war zum ersten Mal seit längerer Zeit wieder von meiner Familie getrennt. In meinen ersten Lebensjahren kam das öfter vor, da meine Mutter, bedingt durch eine chronische Erkrankung, einige lange Krankenhausaufenthalte hatte. Ich kam dann zu Verwandten, oder die Verwandten kamen zu uns. Tante Hanni und Tante Gisela haben in diesen Zeiten bei uns gewohnt. Das Haus hatte genug Platz, um Tante Gisela, meine kleine Cousine Astrid und am Wochenende auch noch Astrids Papa, Onkel Fred aufzunehmen. Das war dann eine ganz lustige bunte WG. Die Unterbringung bei Verwandten gefiel mir nicht, denn das hieß immer weg aus den Hähnen und von den Freunden und Nachbarn, weg von Schladern. Aber auch das war zu überstehen.

Aber zurück zur Klinik. Meine Eltern kamen mich zwar öfter besuchen, aber die Trennung von meiner Familie und mit sechs Jahren so ganz alleine, das war schon hart.

Natürlich hatten alle anderen Kinder auf der Station dasselbe Schicksal, und so wurde das Ganze erträglicher, zumal ich zu den Kindern mit “viel” Besuch gehörte. Da es eine Spezialklinik war, war der Einzugsbereich entsprechend groß, und Autos hatten da noch nicht so viele Leute. Wir hatten eigentlich viel Spaß auf unserem Zimmer. Was nervte, war die Mittagsruhe und die anschließende Milch. Ich war nur Kakao gewohnt und fand diese Milch eklig. Getrunken habe ich sie selten. Wer operiert war, hatte einen Verband auf den Augen und war den ganzen Tag am Brechen, vor allem wenn man zu früh wieder an die Süßigkeiten ging. Ich kann mich an Weißbrot und schwarzen Tee erinnern. Außerdem weiß ich noch das mein Nachbar Ernst Werner mich veräppeln wollte. Er stellte sich mit verstellter Stimme vor als Arzt und sagte: gleich noch mal zur OP! Ich sah ja nichts, merkte nur, dass ich mit Bett gerollt wurde. Als er mir dann einen Flaschenboden als Äthermaske auf die Nase drückte flog der Schwindel auf. Ansonsten haben die Jungs der Station viel zusammengespielt und immer zugesehen, dass man sich weit weg von der Erzieherin, die immer basteln wollte, im großen Spielzimmer am Ende der Station aufhielt. Viele Kinder waren ja bis auf ein, zwei Tage nach der OP beschwerdefrei und konnten sich frei auf der Station bewegen.

Es gab aber auch schlimme Fälle. Auf meinem Zimmer lag ein Junge aus Vietnam, etwas älter als ich, mit dem ich wegen der Sprachbarriere nicht reden konnte. Er hatte Napalm- Verbrennungen im Gesicht. Sein ganzes Gesicht würde über viele Operationen neu konstruiert. Er war mitten in diesem Prozess. Ich weiß nur noch, dass er ein ganz flaches Gesicht hatte, ohne Nase, nur zwei Nasenlöcher und auch der Mund war nur ein Loch. Er war sehr traurig und sagte immer, dass er nach Oberhausen wollte. Im dortigen Friedensdorf Oberhausen waren noch mehr Kinder aus Vietnam, die er kannte. Da hatte ich es mit meiner Schieloperation und der relativen Nähe zur Familie ja noch ganz gut getroffen. Leid ist relativ.

Als dann alles überstanden war, holten meine Eltern mich ab und unterwegs fragte mein Vater, ob wir ein Eis essen sollten. Ich wollte aber nicht, ich wollte ein Eisbein. Eisbein war meine Lieblingsspeise. Von Metzger Klein gekauft, von meiner Mama gekocht und dann lauwarm und mit ordentlich Löwensenf, so dass es in der Nase kribbelte. Dieses Eisbein auf dem Nachhauseweg vom Venusberg war das Beste, das ich je gegessen habe!

Urlaub war Familienzeit. Wir fuhren immer nach Österreich. Zweimal gab es auch Kontakt mit Familie Kötting aus dem Dorf. Gerd Kötting und mein Vater waren befreundet, ich glaube meine Mutter und Frau Kötting mochten sich auch. Dazu kam, dass die Kinder, Manfred, eher Wolfgangs Alter und Jürgen, eher mein Alter, irgendwie auch zusammenpassten.

Einmal waren wir am Wörther See und Köttings in der Nähe. Wir besuchten die Familie in ihrem Quartier. Erinnern kann ich mich an den Nachmittag auf einer Wiese unter einem Obstbaum. Trotz Warnung kroch ich die ganze Zeit auf der Wiese herum. Gewarnt wurde vor einem Hornissennest im Obstbaum. Natürlich hat‘s mich erwischt. Da war ein stechender Schmerz in meiner Hand. Die Wunde wurde dann fachmännisch versorgt und zur Desinfektion mit einem Alkoholverband verbunden. Ich kann mich erinnern, dass ich anschließend dauernd an dem Verband genuckelt habe. Ich fand ihn wohlschmeckend. Sorge machte mir eher, dass mich nie wieder eine Hornisse stechen durfte, denn von drei Stichen starb angeblich ein Pferd, für einen Menschen reichten zwei.

Familie Vogelpohl hat Gaudi beim Tiroler Abend 1969

In einem der Folgejahre besuchten uns Köttings in Kitzbühl. Sie urlaubten auch in unserer Pension. In unserer Familie durfte jeder einen Tag bestimmen was gemacht wurde. meistens war es so, dass mein Bruder, meine Mutter und ich für Baden waren. Der vierte Tag war dann meines Vaters Wunsch entsprechend Wandertag auf einen Berg, von den anderen Dreien wenig geliebt. Da war es bei Köttings lockerer. Die nahmen sich in zwei Tagen alle Berge vor, und zwar mit der Seilbahn. Easy Living.

Badetag am Schwarzsee in Kitzbühl

In dem Jahr brach sich nach der Hälfte des Urlaubs mein Vater den Fuß. Beim Weg von einem Berggasthaus zurück ins Tal rutschte er mit seinen glatten Lederschuhen aus und saß auf dem Hosenboden. Der Fuß stand auf drei Uhr. Schluss mit Wandern! Die Sanitäter hatten ganz schön zu schleppen, um ihn auf der Trage den Berg herunter zu bringen. Er musste dann nach Salzburg ins Krankenhaus, und wir gingen nur noch baden oder machten Autoausflüge mit Köttings. Sehr entspanntes Leben! Wir wurden am Ende des Urlaubs von einem Fahrer des ADAC zurückgefahren, da meine Mutter keinen Führerschein hatte. Mein Vater kam etwas später mit dem Schlafwagen und dickem Gipsbein aus Österreich zurück. Da hatte er erstmal noch einige Zeit mit zu kämpfen.

Ich hatte schon vor der Schule viel Kontakt zu Hundhausens und Rötzels, zwei miteinander verwandte Familien in der Nachbarschaft, mit denen Wolfgang und ich viel Cowboy spielten. Elmar, Matthias (Mattes) und Thomas waren bestens ausgerüstet den wilden Westen rund um die Burg-Windeck-Straße zu erkunden und zu erobern.

Im Garten von Thomas Rötzel. Ca 1966

v. li.: Ulli Vogelpohl, Elmar Hundhausen, Wolfgang Vogelpohl, Thomas Rötzel. Hinten stehend Dirk Rötzel

Im Winter ging es auf die Rodelbahn neben Hundhausens Haus. Nachdem ich von Bähners einen Schlitten zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte, war auch das lästige Abwechseln mit Wolfgangs Schlitten vorbei. Viele Kinder rodelten vor Hundhausens Haus. Am besten war die Schlickerpost. Da standen die Schlitten hintereinander am Start und man musste sich drauflegen und mit den Füßen am hinteren Schlitten einhaken. Dann ging es mit dem ganzen Zug am Haus runter, am Hundezwinger vorbei und die Wäscheleine entlang, bis der Zug keinen Schwung mehr hatte. Oft wurde allerdings die Kurve am Hundezwinger dem hinteren Teil des Zuges zum Verhängnis und alle lagen im Schnee. Besonders hart traf es einmal Roland Sams. Der saß hinten im Zug und donnerte mit seiner Hüfte volle Kanone vor den Wäschepfahl. Oberschenkelhalsbruch! Für ihn war der Winter gelaufen und für die anderen irgendwie auch. Ab da streute Frau Hundhausen auf den oberen Teil der Rodelbahn immer Herdasche. Dadurch büßte die Bahn enorm an Attraktivität ein, es gab aber meines Wissens auch keine Opfer mehr. Übrigens, der Titel… Jeht mal wat dadursch in de Hähnen… stammt von Helene Hundhausen, der Pistenwächterin. Das sagte sie mal zu meinem Bruder und seinen Freunden aus Fürsorge, um ihrem Mann Franz-Jupp den Tagschlaf vor seiner Nachtschicht zu ermöglichen.

Das Gute an der Schule war, dass sich neue Freundschaften auftaten und ich außerdem, meiner Körpergröße entsprechend, ein neues blaues 20er Fahrrad mit Fahne vorne drauf bekam. Das rote 18er wurde an eine andere Familie weitergegeben. Kinder gab es genug in Schladern, und Spielzeug war noch kein Überfluss- und Wegwerfprodukt. In der Schule wuchs dann der Freundeskreis. Mit dem blauen Fahrrad gings dann auch bis zum Scheuren Feld, wo Peter Silvester wohnte. Der hatte im Garten eine von seinem Vater angelegte Straße aus Speiß, auf der man Spielzeugautos bewegen konnte. In die andere Richtung gings ins Dorf. Da wohnten Norbert Seidel und hinter den Bahnschienen Joachim Langen und Bernd Schmidt. Mit denen konnte man am Siegwasserfall auf den Felsen rumklettern und phantasievolle Spiele entwickeln. Aber da war man wirklich schon sehr weit von zuhause weg. Jedenfalls weit genug um Hausaufgaben und Schule zu vergessen.

Spannend war es auch immer bei Frank Hoppe. Der wohnte direkt neben der Katholischen Kirche gegenüber der alten Schule. Über oder neben der Wohnung der Familie war der Dachboden. Unten wohnte der Opa, und nebenan hatte sein Onkel Wilhelm Klüser seine Tischlerei. Der musste mal mein Bett reparieren, nachdem wegen der Toberei mit meinem Bruder die Beine abgebrochen waren. Auf dem Dachboden konnte man sehr gut spielen. Da stand ein Kasperletheater und jede Menge fantasieanregender alter Kram und Fantasie hatte Frank ordentlich. Da sind wir weit weg in fremde Spielwelten entrückt.

Weihnachten 1968
1. Reihe v. unten li.: Elmar Walter, Frank Hoppe, Markus Jasser und ich.
2. Dahinter von rechts Dirk Rötzel, Axel Peukert, Burkhard Adlung. und nicht erkennbar,
3. v.li.: Klaus Albert Buchholz, Bernhard Josko, etwas unterhalb NN, Thomas Josko, NN, NN, hinter Axel P. ist Guido Wienand, NN,
4. neben dem Baum links Bernd Hundenborn, NN

Einmal wollte mir Frank die Funktion des Abfüllstutzens am Öltank der alten Schule vorführen. Das hatte er nämlich beobachtet, als die dort lebende Familie sich Öl für ihren Ofen abzapfte. Das Öl lief tadellos. Allerdings hörte es nicht mehr auf. Frank kannte nicht die Einrastfunktion der Zapfpistole. Oje! Bei der Familie Bescheid sagen war keine Option, jedenfalls für uns nicht, da hätte es bestimmt Ärger gegeben. Also die laufende Zapfpistole in einen Eimer gelegt und schnell weg. Wir, ich glaube Franks jüngerer Bruder war mit dabei, rannten schnell in die Tannenschonung neben der Kirche. Frank entwickelte sofort eine fantasievolle Geschichte, an deren Titel ich mich noch erinnere: Der Junge und das Öl. Irgendwie wurde mir die Sache zu heiß. Ich verabschiedete mich mal besser und ging nach Hause, Hausaufgaben machen, freiwillig! Später am Nachmittag kam Frank zu uns und klingelte mich raus. Er sagte, dass durch das Öl, das aus dem Lagerschuppen gelaufen war, beträchtlich Schaden, auch am Erdreich entstanden sei. Aber seine Eltern hätten eine Versicherung, die alles bezahlen würde. Ich glaube, der Ärger hielt sich in Grenzen, und ich war auch danach noch oft bei Frank. Ich bewundere noch heute die Coolness der Eltern, die so toll mit dem Unfug ihres Sohnes umgegangen sind und ihn durchaus angemessen in die Verantwortung für unser Handeln genommen haben. Das strahlte aus. Auch bei uns gab es keinen nachhaltigen Ärger. Jedenfalls haben wir Respekt vor unbekannter Technik an diesem Nachmittag gelernt.

Als ich später wieder in Neubeckum wohnte, mussten wir mal einen Aufsatz zu dem Thema “Als ich einmal Quatsch gemacht habe” schreiben. Da nahm ich die Geschichte vom Öltank. Die Lehrerin schrieb unter den Text, das wäre unrealistisch und nicht glaubwürdig. Hahaha, hatte die ‘ne Ahnung von Schladern und unserer Kindheit.

Mein Vater arbeitete viel und lange in seiner Fabrik. Auch war er öfter weg zu Geschäftsreisen. Kein Problem für uns. Da hatten wir dann etwas Ruhe vor dem Lernen und seinen Ansprüchen an uns, die schon ehrgeizig waren. Wenn er am Wochenende noch mal zum Betrieb musste, nahm er uns manchmal mit. Er hatte einen großen Tresor in seinem Büro. In dem anderen Büro saßen Frau Bähner (dat Jertrud), die Schwiegertochter unserer Nachbarn als Sekretärin, und Herr Land, der Buchhalter. Außerdem gab es noch Karl Engelhard aus Lindenpütz. Der war irgendwie für alles zuständig und ein sehr netter Mann. Als ich mal Mumps hatte, hat er mir Eier von seinen Zwerghühnern zukommen lassen. Die haben mich damals geheilt. Im Betrieb war es spannender als im Büro, da konnte man Hubwagen fahren oder sich ins Kunststoffgranulat legen. Das war weich und flexibel, aber nicht so glitschig wie der Froschlaich aus dem Teich hinterm Haus.

Weiberfastnacht 1970. Meine Mutter und Frau Bähner, Schwiegertochter der Nachbarn, Mitarbeiterin meines Vaters. Fotos: Familienarchiv Vogelpohl

Zuhause war eigentlich immer meine Mama da und war mit Kochen und Bügeln beschäftigt. Gerne genoss sie die Sonne nachmittags auf unserer Terrasse. Zwischendurch quälte sie sich mit mir sehr geduldig durch die Hausaufgaben, soweit ich diese vorlegte. Irgendwie gelang es mir, das Maß der Aufgaben auf einen erträglichen Rahmen zu reduzieren. Ich hatte schließlich noch genug anderes zu tun.

Ich habe noch viele schöne weitere Erinnerungen aus den Jahren in Schladern und eigentlich auch noch danach von den Besuchen bei Freunden und Ferien, zu denen mich die Mama von meinem Freund Thomas Rötzel eingeladen hat.

Leider wurde 1971 die Produktion der oben erwähnten PSG Plastiksack in den Heimatort meiner Eltern zurückverlegt und mein Vater dorthin versetzt. So hieß es dann Abschied nehmen von Schladern und den lieb gewonnenen Menschen. Aber ich merke heute beim Schreiben über die Ereignisse vor über 50 Jahren, dass mir das alles noch sehr präsent ist, und ich sehr gerne an die Schladerner Kindheit zurückdenke.

 

Burg-Windeck-Straße 35
Windeck, Nordrhein-Westfalen.
Deutschland ,51570

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