Tante Dore und die „Erbschaft“ des Fritz Müller

Text | Dorfgeschichten, Personen | Montag, 01 Januar 1912

von Frieder Döring



Die Tochter von Auguste Peters, Dorothea Peters-Brökelschen (1912 – 2004), in Windeck und Waldbröl über Jahrzehnte als „Die Klavierlehrerin“ bekannt, war eine sehr gebildete und humorvolle Frau mit besonderer Geschichte:




Der hochbegabte Schladerner Künstler Karl Christian Peters (ein Selbstporträt) zeichnete seine Schwester, die Klavierlehrerin Dorothea Brökelschen. Er starb 1944 mit 33 Jahren als Soldat an den Folgen seiner schweren Verletzungen.


Mit dem Bau und der Eröffnung des imposanten Schladerner Bahnhofs 1860 kam auch ein erster Bahnmeister, Friedrich Wilhelm Müller vom Eisenbahnknotenpunkt Siegen dorthin. Er bezog eine Beamtenwohnung im Bahnhofsgebäude und sah sich unter den Töchtern des Landes um, da ihm jetzt nur noch eine respektable Familie fehlte. Im Gasthof „Deutsches Haus“ gegenüber dem Bahnhof, wo er zunächst seine Mahlzeiten ein? nahm, am Honoratiorentisch natürlich, wurde er oft von der Schwester des Wirtes, der 18?jährigen adretten Lisette Schneider bedient. Sie gefiel ihm, und kurze Zeit später waren die bei? den verheiratet. Sie bekamen sieben Kinder. Der Jüngste, Friedrich Wilhelm Theodor, Fritz gerufen, war sehr aufgeweckt und sollte später mal studieren. Dazu musste er auf die Latein? schule in Neuwied bei der Brüdergemeinde. Um dort angenommen zu werden, musste er eine Prüfung machen und beachtliche Vorkenntnisse aufweisen. Deshalb schickten die Eltern ihn nur kurz in die Dorfschule nach Lindenpütz (in Schladern gab es noch keine), um Lesen und Schreiben zu lernen, und dann vom siebten bis zum zehnten Lebensjahr nach Waldbröl zum evangelischen Pfarrer, der ihm im Privatunterricht Latein, Mathematik, Geschichte und Theologie beibringen sollte.

Dazu stand der Junge jeden Tag von montags bis samstags um fünf Uhr morgens auf und wanderte zwei Stunden lang die elf Kilometer nach Waldbröl. Dort weckte er den Pfarrer auf, machte ihm den Ofen an und deckte ihm den Frühstückstisch mit dem von Schladern mitgebrachten Brot, der Butter, dem Käse, der Wurst, die das Honorar waren für seinen Unterricht. 171 Dann wurde drei Stunden lang feste Latein gepaukt. Er verabschiedete sich, erledigte ein paar Auftragsbesorgungen im Städtchen und machte sich wieder auf den zweistündigen Heimweg. Das ging drei Jahre so. Dann durfte er die Prüfung an der Lateinschule machen, bestand sie mit Bestnote und wurde nach Neuwied ins Internat zu den Herrnhuter Brüdern geschickt. Dort hat er mit 16 Jahren die Matura gemacht, hat bei der Brüdergemeinde Theologie studiert, wurde mit 21 Jahren Pfarrer und erhielt schon bald danach eine Pfarrstelle an der evangelischen Gemeinde in Mülheim?Saarn, wo seine Schwester mit dem Kirchmeister verheiratet war. Die besorgte ihm auch zunächst die Wohnung im Pfarrhaus und wenig später seine Frau Maria, Alleinerbin aus einer Industriellenfamilie, die als Mitgift 100.000 Reichsmark in Gold mit in die Ehe brachte. Deshalb wurde sie hier in Schladern „Goldkäppchen“ genannt. Sie bekamen dann eine Tochter, Maria Elisabeth, und alles schien bestens zu sein, bis der Pfarrer Müller eines Tages auf einem kirchlichen Fortbildungsseminar in Dortmund war.

Nach seiner Rückkehr fand seine Frau in seiner Jacke die Rechnung einer Hotelübernachtung für zwei Personen. Sie veranlasste eine öffentliche Befragung vor dem versammelten Presbyterium, und er musste unter Eid zugeben, dass er auf diesem Seminar eine Gemeindehelferin aus Waldbröl getroffen habe, die er aus seiner Kindheit und den Unterrichtsjahren in Waldbröl schon kannte und in die er sich damals als Zehnjähriger schon verliebt habe und bei diesem Wiedertreffen neu. Also wurde er vom Kirchengemeinderat wegen Ehebruchs entlassen, seine Frau reichte die Scheidung ein und behielt Tochter und Mitgift. Er wanderte aus nach Berlin, heiratete dort seine Jugendliebe, wurde Journalist und schließlich Chefredakteur beim Berliner Tageblatt.

Seine Heimat Schladern und die Kusine Dore besuchte er regelmäßig im Urlaub. Seine Tochter Maria Elisabeth wuchs in Mülheim auf, heiratete den Regierungsbeamten Willi Brökelschen und besuchte auch öfter mit diesem Schladern und die Tante Auguste Peters samt Tochter Dore. Sie hatte mit ihrem Mann zwei Söhne, starb aber früh.

Die unverheiratete Dore versorgte ihre Mutter noch bis zu deren Tod 1969 mit ihren Einnahmen als freischaffende Klavierlehrerin. Sie hatte aber keine Rentenanwartschaften erworben. Da hat die kluge Mutter kurz vor ihrem Tod den mit ihr fast gleichaltrigen Witwer Brökelschen überredet, ihre Tochter Dore zu heiraten und sie mit seiner Rente zu versorgen. Und so geschah es. Die beiden hatten danach noch drei ganz nette Jahre miteinander, verreisten viel, wobei die Dore zum ersten Mal im Leben weit über Köln hinauskam, dann starb auch ihr Mann und sie behielt die Witwenrente.

In ihren letzten Jahren besuchte ich sie häufig am Samstagnachmittag in Schladern, wenn ich vorher meist mit einem unserer Söhne nach Seifen zum Holzmachen gefahren war für unseren Kachelofen in Troisdorf?Bergheim. Auf der Rückfahrt kehrten wir bei ihr zum Kaffee ein und sie erzählte uns diese Geschichte vom Fritz Müller, aber auch noch viele andere aus der Familie und der Ortsentwicklung, wie es früher schon ihre Mutter, unsere Tante Guste, getan hatte und fast im gleichen Wortlaut.

Dann kamen wir wieder an einem Samstagnachmittag bei ihr vorbei, fanden ihre Türe nur angelehnt, sahen im Flur einen Putzeimer stehen bei offener Kellertür. Ich sauste runter, und da lag sie stöhnend am Fuß der Kellertreppe. Wir haben sie in Decken gehüllt und sie hat uns zugeflüstert, dass sie dort schon seit dem Vorabend liege. Sie war die ganze Zeit wach und bei Bewusstsein gewesen, hatte mehrere Menschen, wie den Briefträger und den Zeitungsboten durch das Kellerfenster an ihre Haustür kommen gesehen, war aber zu schwach gewesen, um laut zu rufen. So musste sie 24 Stunden mit heftigen Schmerzen bei gebrochener Hüfte und gebrochenem Handgelenk in der Kälte ausharren, bevor wir kamen. Ich habe den Notarzt gerufen, sie wurde ins Krankenhaus geschafft, mehrfach operiert und ist nach einiger Zeit wieder auf die Beine und in ihr Haus zurückgekommen.

Nach einem zweiten Sturz wurde sie einige Zeit später vollends hilflos und unser Sohn Sebastian, dessen Patentante sie war, hat sich dann entschlossen, mit seinem Freund zu ihr zu ziehen und hat sie dort mit ihm zusammen vier Jahre lang, in denen sie weitgehend bettlägerig war, bis zu ihrem Tod versorgt und gepflegt

15 Amselweg
Windeck, Nordrhein-Westfalen.
Deutschland ,51570